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ISSN 2753-4812
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Gesang über den Rat, das Fleischessen aufzugeben

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Gesang über den Rat, das Fleischessen aufzugeben

von Nyala Pema Dündül

Denke ich an das Leid, welches der Fleischverzehr mit sich bringt,
so ist mir die Qual und Pein meines Herzens unerträglich.

Oṃ maṇi padme hūṃ hrīḥ!

Aus dem Zustand der Leerheit und des Mitgefühls geleitest du die Wesen –
edler Avalokiteśvara, dir erweise ich Verehrung.

Ohne mich in Liebe und Mitgefühl geübt zu haben,
aß ich das Fleisch meiner Mütter, während ich andere über Ursache und Wirkung belehrte.
Ohne das Absolute zu erkennen, wanderte ich auf dem Pfad der leeren Worte.

Als ich, der papageiengleiche Bettelmann vom Weißen Felsen,
mich in Entbehrungen und dem „Extrahieren der Essenz“[1] übte,
meditierte ich eines Tages auf den Herrn Avalokiteśvara,
gemäß der Vereinigung der Phasen aus der „raumgleichen Selbstbefreiung“[2];
da sah ich meinen Körper und alles, das mich umgab, plötzlich verschwinden
und sich in einen lichtvollen Körper wandeln, dem Körper des Großen Mitfühlenden gleich,
wie im weiten Raum schwebend.

Inmitten dieser Erfahrung lichtvollen Gewahrseins den Blick schweifen lassend,
sah ich das unbegreifliche Elend der niederen Bereiche,
besonders die weitreichenden Leiden der Hölle wiederholter Qual.

Einer der Bereiche war vollkommen erfüllt
von Männern und Frauen, nackt und hilflos, vor jedem eine Schar grimmiger Diener des Bösen,
mit Köpfen wie Vögel, wilde und gezähmte Tiere und grausame Bestien.

Viele dieser Diener hielten Waffen in ihren Händen,
scharf genug, das Fleisch von ihren Opfern zu schälen und zu verzehren;
wieder und wieder schnitten sie, wieder und wieder wuchs das Fleisch nach.
Die Unglücklichen verstarben nicht, ehe ihr Karma vollkommen aufgebraucht war,
und die Gewohnheitstendenzen nahmen nicht ab, sondern wuchsen an.

Schlimmer noch war er für jene, die „rote Gaben“[3] dargebracht hatten.
Laute Schreie stießen sie aus, in Höllenqual und Schmerz.
Nachdem ich diese äußere Erscheinung meiner eigenen Wahrnehmung erblickt hatte,
fragte ich mich, was wohl getan werde könnte, um solches Leid zu beenden.

Da erschien in jenem Augenblick
der Große Mitfühlende im Himmel vor mir und sprach:

Ema! Mein Sohn, der du mir nahe warst während vieler Leben,
höre mir nun gut zu, du Pflichtbewusster und Entschlossener!
In der Erzeugungsphase des Gottheiten-Yoga hast du Standfestigkeit erlangt,
selbst einige Qualitäten hast du entwickelt,
die Wurzel des Dharma jedoch ist liebende Güte und Mitgefühl.
Trägst du wahrhaftig Liebe und Mitgefühl in dir?
Wie könnte jemand, der sich in Mitgefühl übt, jemals Fleisch verzehren?
Sieh nur, welches Leid es mit sich bringt!

Die Wirkungen unserer eigenen Handlungen reifen allein für uns selbst heran,
daran können die Buddhas der drei Zeiten nichts ändern.
Vom Fleischverzehr geht keinerlei Tugend aus, sondern einzig viele Nachteile.
Er ist Ursache der 400 Arten von Krankheit und 80 000 behindernden Kräfte;
seiner Natur entspringen die 84 000 trübenden Gemütszustände.

Außer als Teil des furchtlosen Verhaltens zum Wohle all jener, denen man begegnet,
als Teil von Medizin oder heiliger Substanz des höchsten Geheimen Mantras
beinhaltet der Fleischverzehr nicht die geringste Spur von Tugend.

Fleisch zu verzehren ist ein Zeichen für einen Māra oder Rākṣasa-Dämonen;
es lässt Disziplin verkommen und negative Gemütszustände anwachsen.
Ohne die Ursache von selbstloser Liebe und Mitgefühl
wird es dir schwerfallen, die Frucht, die Essenz des Erwachens zu erlangen.

Kein Geleit der Gottheiten der Weisheit gibt es für jene, die Fleisch verzehren,
ihnen mangelt es an Segen, Errungenschaften, Glückverheißung und Aktivität;
auch die Substanz von Selbstlosigkeit entwickelt sich nicht in ihnen,
die von Göttern, Nāgas und anderen Wesen als Dämonen betrachtet werden.

Fleischesser werden geplagt von Gandharvas, Rākṣasas, Māras,
von Yamas, Gespenstern, Geistern, Gyalpos, Gongpos und Dämonen, die ihr Samaya gebrochen haben.

Die Wirkung des Fleischverzehrs ist Wiedergeburt in [einer der] Höllen,
als Vogel, Schakal, Kannibal-Dämon oder dergleichen;
somit bringt das Verzehren von Fleisch unermessliches Leid.

Indem du ihm jedoch entsagst, wirst du von solcherlei Nachteilen befreit sein
und stets die Verehrung nicht-menschlicher Wesen erhalten,
die dich als reinen, wahrhaftigen Brahmanen oder Gott ansehen.

Alle Buddhas und Bodhisattvas, mitsamt ihrem Gefolge,
Gurus, Yidam-Gottheiten und Ḍākinīs der zehn Richtungen werden sich um dich wie Wolken scharen
und männliche wie weibliche Bodhisattvas werden deine Begleiter sein.

Du wirst, von Natur aus, die Ursache von liebender Güte und Mitgefühl besitzen
und rasch die Frucht erlangen, welche die Essenz des Erwachens ist.
Dies sind nur einige der unbegreiflichen Tugenden, die du erlangen wirst.“

So sprach er, und nachdem meine eigene Wahrnehmung zurückgekehrt war,
war mir, als wäre ich aus einem Klartraum erwacht;
Körper und Geist waren voller Pein, als hätte ich Gift verschluckt
und ich zitterte vor Angst und Furcht.

Allein durch den Gedanken an die schrecklichen Leiden der Hölle wiederholter Qual
wünschte ich einzig, mein Glück für den Schmerz anderer einzutauschen;
so überwältigt war mein Geist, dass ich bitterlich weinte
und unerträglich starkes Mitgefühl erfüllte mich.

Da entschloss ich mich, die Leiden anderer auf mich zu nehmen, ihre Verfehlungen und Verdunkelungen zu bereinigen, deren Ursache der Fleischverzehr war, und für jedes fühlende Mutterwesen, deren Zahl so unendlich ist wie die Weite des Raumes, legte ich, in Übereinstimmung mit den Zwei Wahrheiten, folgendes Gelübde ab:

Aho! Mächtiger Weiser, Śākyamuni,
ihr Buddhas und Bodhisattvas im gesamten Raum und aller Zeit,
seht voller Mitgefühl auf dieses Kind, das nichts von Ursache und Wirkung wusste!
Ihr Scharen von gütigen Wurzelgurus und Linienhaltern, wendet euch mir zu!
Seht voller Mitgefühl auf dieses Kind, das nichts von Ursache und Wirkung wusste!
Höchste Yidam-Gottheit, mächtiger Avalokiteśvara, wende dich mir zu!
Sieh voller Mitgefühl auf dieses Kind, das nichts von Ursache und Wirkung wusste!

Überwältigt von Unwissenheit und den zwei Verdunkelungen
sprach ich oft davon, dass all die unendlichen Wesen unsere Eltern gewesen sind,
und während ich von ihrem Fleisch lebte, belehrte ich andere über Ursache und Wirkung.
Nichts wusste ich von dem Leid, welches damit einhergeht!

Oft hörte ich, dass das Verzehren von Fleisch mit dreifacher Reinheit[4]
vom Erhabenen gebilligt wird und nicht als Untat zählt.
Dies jedoch trifft einzig auf die Heiligen zu, welche allen Nutzen bringen, denen sie begegnen;
rein wie Lotus-Blumen, unbefleckt von negativen Gemütszuständen,
sowie auf Praktizierende des tiefgründigen Pfades des Geheimen Mantras.

Was mich betrifft, so besitze ich keinerlei Anweisung,
die tiefgründiger ist als selbstlose Liebe und Mitgefühl
sowie die Unfehlbarkeit von Ursache und Wirkung.

Auf dass alle Verfehlungen und Verdunkelungen aufgrund des Fleischverzehrs bereinigt werden,
für alle fühlenden Wesen, deren Zahl den ganzen Raum erfüllen
entsage ich von jetzt an vollkommen dem Verzehren von Fleisch.
Dies ist mein unerschöpflicher Entschluss, den ich niemals aufgeben werde.

Selbst wenn alle Tiere dieser Erde verzehrt werden würden,
wäre es nie genug; der Hunger würde nur weiter anwachsen.
Wenn uns Speis oder Trank für nur wenige Tage verwehrt bleiben,
fühlen wir uns, als hätten wir nie zuvor auch nur einen Bissen oder Tropfen gekostet.
Nun ist die Zeit gekommen, diesem Dämon, dem Hunger, zu entfliehen.

Was aber ist letztlich die Ursache dieses Fleisches?
Es entspringt einzig dem Greifen nach einem Selbst und der Anhaftung.
Allein der Gedanke daran lässt Überdruss und Übelkeit in mir aufkommen.
Dieser gänzlich unappetitliche Haufen von Unordnung und Dreck,
verbunden mit den 36 unreinen Substanzen,
ein Körper von Gewohnheitsmustern und Aggregaten, ist die Grundlage für jegliches Leid.

Jedes Tier besitzt seine eigenen negativen Handlungen,
wer immer das Fleisch solcher Wesen verzehrt, wird schwerlich Befreiung erlangen.
Fleisch und Alkohol sind unreine Substanzen,
sie darzubringen zählt nicht als Großzügigkeit, sprach der Buddha.
Wer also würde solch leidverursachende Speise zu sich nehmen?

Das Schicksal der Pretas dauert viele Tausende von menschlichen Jahren,
ohne Schimmer von Speis und Trank, einzig dem Leiden unterworfen.
Wir menschlichen Wesen jedoch trinken mit Freude selbst eiskaltes Wasser
und können von einer Vielzahl anderer Dinge als Fleisch und Alkohol leben.

Wenn wir durch solche Freuden noch immer nicht befriedigt sind,
wie könnten wir vergangene Güte derart ungerecht erwidern?
Im Laufe unzähliger, vergangener Äonen
in allen Welten innerhalb dieses weiten Universums[5]
gab es kein einziges Wesen, welches nicht einst unsere Mutter gewesen ist,
und die Milch, die wir aus Mutterbrüsten tranken, würde Milliarden von Ozeanen füllen.

Alle Heuchelei gebe ich auf, lasst die Drei Juwelen meine Zeugen sein!
In vergangener Zeit habe ich, unter dem Einfluss von Unwissenheit und Gewohnheit,
das Fleisch meiner Eltern verzehrt und niemals reuevoll Bekenntnis abgelegt.

Nun, mit reiner Motivation und den vollkommenen Vier Kräften,
wie in dem Sprichwort, „Ich war, bin und werde frei sein von Anhaftung“,
möge mir der Gedanke, Fleisch zu verzehren, von nun an nie auch nur in den Sinn kommen;
und sollte ich jemals abirren, mögen die Drei Juwelen ihre Strafe über mich kommen lassen.
Mögen die Schützer und Wächter fortwährend über mich wachen.

Würde ich nun das Fleisch meiner einstigen Mütter verzehren,
so gäbe es keinen größeren Übertreter in allen drei Bereichen!
Selbst geringes Leid, das man anderen zufügt, schadet den eigenen Gelübden, sprach der Buddha.
Was braucht man da noch Fleischverzehr zu erwähnen, der das Nehmen eines Lebens beinhaltet?

Im Parinirvāṇa-Sūtra, im Laṅkāvatāra und an anderen Stellen heißt es,
das Verzehren von Fleisch dem Töten gleichkommt.
Verboten ist es auf den Pfaden des kleineren und größeren Fahrzeugs,
besonders inakzeptabel jedoch für Bodhisattvas.
Selbst unser Lehrer, einst in Gestalt eines jungen Rebhuhns
und als Bestie in der Wildnis[6] aß kein Fleisch;
wie also könnten wir, die ihm folgen, dies jemals tun?

In Übereinstimmung mit der Führung des Siegreichen
gab es viele große Meister in Indien und Tibet,
die auf Fleisch verzichteten.

All dies zeigt, wie unvorstellbar weitreichend die Nachteile des Fleischverzehrs sind.
Keine Negativität zu kultivieren ist an sich bereits reiner Dharma;
möge ich also stets mit der wahrhaftigen Lehre im Einklang sein!“

Hat man die grenzenlosen Nachteile erblickt, die dem Fleischverzehr entspringen,
ist bereits der Gedanke daran so ekelerregend wie Gift.
Um meine eigene Entsagung zu unterstützen,
habe ich, der große Bettelmann mit Namen Dündül
diese Worte in der Himmelsfestung-Einsiedelei vom Weißen Felsen verfasst.

Mögen durch diese Tugend alle fühlenden Wesen
sämtliche Nachteile und Verdunklungen aufgrund von Fleischverzehr bereinigen,
auf dass sie sodann vor dem Angesicht Tausender Buddhas stehen mögen!


| Englische Übersetzung Adam Pearcey mit Dank an Ringu Tulku Rinpoche für seine Erläuterungen. Ursprüngliche Übersetzung 2004. Überarbeitete Fassung 2017. Deutsche Übersetzung Lobsang Dargye. Lektorat Karin Behrendt.


Bibliografie

Tibetisch

Nyag bla padma bdud ʼdul. „sha za spong ba la gdams pa“ In Nyag bla padma bdud 'dul gyi rnam thar dang mgur ʼbum. 1 Band. Chengdu: Si khron mi rigs dpe skrun khang, 1998. (BDRC MW21701). Seite 160-165.


Version: 1.0-20230802


  1. Nyala Pema Dündül war für seine Beherrschung dieser Praxis bekannt. In seinen Aufzeichnungen bezeichnet er sich selbst gelegentlich als einen „steinessenden Yogi“ (rnal ’byor rdo zan) – ein Hinweis auf eine Zeit, in der er die Essenz von Steinen und Mineralien in Form von Pillen zu sich nahm.  ↩

  2. Die „raumgleiche Selbstbefreiung“ (mkha’ mnyam rang grol) ist ein Terma (Enthüllung) von Nyala Pema Dündül.  ↩

  3. Dies bezeichnet das Opfern von Lebewesen (z. B. Ziegen, Hühnern, etc.), womit das Fließen von Blut verbunden ist.  ↩

  4. Dies bedeutet, dass du weder davon 1) gesehen, 2) gehört oder 3) gewusst hast, dass etwas darauf hindeutet, dass das Fleisch speziell für dich geschlachtet wurde; und dass du nicht einmal einen leisen Zweifel hast, dass dies so sein könnte.  ↩

  5. Buchstäblich „in allen sieben Welten“ ('jig rten bdun po), d.h den Bereichen der sechs Klassen von Wesen (der Höllenwesen, Hungergeister/Pretas, Tiere, Menschen, Asuras und Devas) sowie den Bereich des Bardo (Zwischenzustand).  ↩

  6. Diese Aussagen beziehen sich auf die früheren Leben des Buddha, wie sie in den sogenannten „Geschichten über die Leben des Buddha“ (Jātaka) berichtet werden.  ↩

Nyala Pema Dündul

Nyala Pema Dündul

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