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ISSN 2753-4812
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Tiefgründige Śamatha-Anweisung

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Tiefgründige Anweisung über Śamatha

von Jamgön Mipam Rinpoche

Ich werfe mich nieder vor Mañjuśrī!

Der Nutzen der Praxis in Kürze

Richtest du den Geist [auf sich selbst] aus, wirst du Śamatha vollenden und allmählich wird sich Einsicht (Vipaśyanā) in die Natur der Dinge einstellen.

Die eigentliche Anweisung

Ziehe dein gewöhnliches Gewahrsein – das leuchtend klar, offen und strahlend ist – in die leere Mitte deines Herzens und lass es zur Ruhe kommen; das ist gemeint, wenn es heißt, dass der Geist auf sich selbst ausgerichtet ist, und in dieser Erfahrung gibt es absolut nichts, worauf man sich fokussieren müsste oder könnte.

Wenn der Geist existiert, sollte er im Körper zu finden sein; aber er ist nicht zu finden, weder im Herzen noch sonst irgendwo.

Sobald die Gedanken wild dahinjagen, wende dich ihrem Ursprung zu und verweile dort mit sanfter Gelassenheit.

Es ist nicht notwendig, nach dem Geist zu suchen; entspanne dich einfach und verweile, wo immer du dich befindest. Es ist auch nicht notwendig zu untersuchen, ob es einen „Ort“ gibt, an dem man verweilen könnte – verweile einfach im Geist.

Es ist völlig in Ordnung, sich einfach zu entspannen und dem Geist zu gestatten, im Inneren zur Ruhe zu kommen, als würde er in seinem eigenen Bett liegen. Das ist die nicht künstlich erzeugte Weise zu ruhen;[1] alles andere ist unnötig.

So wie Sonnenlicht umso heller strahlt, wenn es sich auf aufgewühltem Wasser bricht und reflektiert wird, so führt in einem aufgewühlten Geist eine Emotion oder ein Gedanke zum nächsten; der Versuch, Gedanken zum Stillstand zu bringen, wird einfach nicht funktionieren. Doch sobald das Wasser nicht mehr aufgewühlt ist, sondern sich beruhigt hat, werden die Lichtstrahlen nicht mehr so stark reflektiert. In gleicher Weise erlaube dem Geist, der der Ursprung ist, still und ohne geistige Aufgewühltheit zur Ruhe zu kommen.

Vergiss diese Erfahrung nicht, sondern nutze einen ununterbrochenen Strom von Achtsamkeit und Wachheit, um in der natürlichen [leer-klaren] Ruhe des Geistes zu verweilen – fokussiert und frisch.

Wenn du die Erfahrung der Abwesenheit von Gedanken machst, entspanne dich in ihrer natürlichen Ruhe.

Wenn du intensive Klarheit erlebst, entspanne dich in ihrer natürlichen Ruhe.

Wenn du die Erfahrung machst, dass der Geist wild wird und zahlreiche Gedanken auftauchen, entspanne dich in seiner natürlichen Ruhe. Ganz gleich, was vor sich geht, entspanne dich einfach in der nackten, direkten Erfahrung von allem, was auch immer in jenem Moment geschieht.

Wenn diese Erfahrungen der Abwesenheit von Gedanken, Klarheit oder Gedankenflut auftauchen, erkenne sie, aber verfolge sie nicht und jage ihnen nicht nach. Ruhe einfach in dem Raum, der das Erkennen ihrer Natur ist.

Mit zunehmender Vertrautheit wird dieses [Erkennen] immer länger anhalten. Lass alles Analysieren oder grobes Denken sich in sich selbst auflösen.

Gelegentlich kann der Geist dumpf und ohne jegliche Bewegung [von Gedanken] erscheinen. Vertreibe diese Trägheit und ruhe einfach.

Zu anderen Zeiten mag es so aussehen, als ob der Geist voller Bewegung ist und alle möglichen Gedanken auftauchen. Da die Regungen nichts anderes als der Geist sind, schau in solchen Momenten in seine Natur und entspanne dich.

Versuche nicht, die Erfahrung, die der Bewegung nachfolgt, zu verlängern, sondern bleibe standfest. Die Gedanken werden ganz von selbst nachlassen, und du wirst erkennen, dass Aufregung, Ruhe und sogar starke Gefühle und Emotionen alle an der Oberfläche des Geistes liegen – entspanne dich in seiner Tiefe.

Den Geist im Herzen zu verankern oder den Geist einfach sein zu lassen ist im Grunde dasselbe. Der springende Punkt ist, den Geist zu entspannen. Wenn man achtsam ist, werden sich die Knoten der Gedanken von selbst lösen. [So wie eine Schlange die Knoten in ihrem Körper zu lösen vermag, ohne Hilfe von anderen, so befreit sich der Geist von selbst, wenn man ihn wirklich zur Ruhe kommen lässt.]

Die Fehler, die unter dem ständigen Einfluss des diskursiven Denkens entstehen

Diskursive Gedanken sind endlos; sie werden nicht einfach von allein verschwinden. So vielfältig und zahlreich sie auch sein mögen, sie bringen keine wirklichen Ergebnisse oder Nutzen. Sie können negative Geisteszustände oder Leiden nicht beenden.

[Willst du frei von Leiden sein, musst du dich von den entsprechenden Ursachen befreien.]

Zu diesem Zweck musst du die Fehler des diskursiven Denkens und der Emotionen erkennen.

Seit Anbeginn haben diese Gedanken die Kontrolle über dich und als Folge davon hast du keine wahren Qualitäten erworben.

Gib die Anhaftung an solche Gedanken nun auf und tue alles, was du kannst, um geistige Stille zu entwickeln.

Die Qualitäten, die sich aus der Überwindung diskursiven Denkens ergeben

Wenn dir das gelingt, wirst du viele Qualitäten erlangen, wie zum Beispiel Konzentration und [unverfälschte] Hellsichtigkeit. Du wirst die Kraft erlangen, im natürlichen Zustand zu verweilen, und höchste Glückseligkeit finden.

Gründe dafür, sich in der Praxis große Mühe zu geben

Mit diesem Verständnis der Fehler und des Nutzens und nachdem du einen gewissen Grad an Kontrolle über den Geist erlangt hast, solltest du mit unermüdlichem Eifer weiter praktizieren, bis du ruhiges Verweilen vollendet hast. [Das heißt, dass du die meditativen Erfahrungen von Bewegung, Errungenschaft, Vertrautheit, Stabilität und letztendlicher Erfahrung durchlaufen und das Samādhi des Gipfelpunkts von Saṃsāra erlangt hast.]

Durch die Vertrautheit mit dieser Meditationsmethode wird die sich bewegende Energie/der Wind der Aktivität, [durch den so viele Gedanken entstehen], in deinem Herzen zusammenkommen und in den Zentralkanal eintreten. Wilde, hartnäckige Gedanken werden allmählich befriedet werden und dein Geist wird zunehmend geschmeidiger und positiver sein.

[Der Wind der Aktivität – die Bewegung der subtilen Energie/des subtilen Windes im Körper – wird sich auf natürliche Weise in den Zentralkanal auflösen. Dies hat zur Folge, dass der Reiter besagter Energie, das diskursive Denken, kein Reittier mehr hat und sich ganz natürlich in leeres/Gewahrsein auflöst und du keine Gedanken mehr haben wirst. Diskursive Gedanken sind beruhigt und du wirst in der offenen Lichtheit ihrer Abwesenheit verweilen].

Hier wird gezeigt, wie tiefgründig diese spezifische Meditationsmethode ist und wie leicht man sie doch praktizieren kann

Selbst ohne andere Arten der Einführung durch den Guru bieten uns diese Kernanweisungen dazu, wie man den Geist in sich selbst ruhen lässt, eine einfache Möglichkeit, den Geist zur Ruhe zu bringen, die keine der Gefahren birgt, die mit der gezielten Manipulation der Energie verbunden sind.

Kannst du den Geist auf diese Weise einfach in sich selbst zur Ruhe kommen lassen, wirst du schnell und ohne große Schwierigkeiten eine nutzbare Konzentration erreichen.

Hier musst du nicht über subtile Bindus/Tropfen im Herzen meditieren, noch über Silben, noch über irgendeine Gestalt und Form. Es besteht auch keine Notwendigkeit, den Atem zu beeinflussen.

Die tiefgründigste Methode des ruhigen Verweilens besteht einfach darin, die Natur des eigenen Geistes zu sehen und in ihr zu ruhen und dies kontinuierlich und achtsam aufrechtzuerhalten. Dies ist leicht zu praktizieren und bringt schnelle Ergebnisse.

Eine Zusammenfassung der Punkte: Wie ruhiges Verweilen ganz natürlich zu Einsicht führt

Verweile zunächst still und lass den Geist zur Ruhe kommen. Dann lass den Geist in sich selbst schauen. So wie es nichts zu beobachten gibt, wenn man in den Raum starrt, so werden diskursive und negative Gedanken auf natürliche Weise in sich selbst befreit werden. Dann wird das Geheimnis des Geistes – Dharmatā, die Einheit von [der Sicht des Madhyamaka, das Thema des zweiten Drehens des Dharma-Rades] Leerheit und Klarheit [das Thema des dritten Drehens des Dharma-Rades und das Thema des Mantra, die Buddhanatur] – auf natürliche Weise zutage treten. Und durch den Segen der Verwirklichung eines vollkommen qualifizierten Meisters/einer vollkommen qualifizierten Meisterin, seiner/ihrer Linie und deiner vollkommenen Hingabe wird eine Erfahrung der leeren Klarheit des großen natürlichen Zustands – die spontane, selbst-auftretende Weisheit, welche die Bedeutung der Großen Vollkommenheit der Lichtheit ist – entstehen.

Verfasst von Mipam während des dritten Teils des sechsten Tages des zweiten Monats im Jahr des Feuerpferdes.


| Englische Übersetzung Sean Price, 2019. Deutsche Übersetzung: Erika Bachhuber, 2023. Lektoriert von Karin Behrendt. Die Überschriften wurden von Khen Rinpoche Yeshe Gyaltsen um der besseren Klarheit willen hinzugefügt.


Bibliographie

Zugrundeliegende tibetische Ausgabe

Mi pham rgya mtsho. gSung 'bum/_Mi pham rgya mtsho. BDRC W23468. 27 Bde. Paro, Bhutan: Lama Ngodrup and Sherab Drimey, 1984–1993. Bd. 27: 44a (163) – 45b (166)


Version: 1.1-20240625



  1. Wenn man na nor als na mar liest.  ↩

Mipham Rinpoche

Ju Mipham Namgyal Gyatso

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