Das Rad der Analyse und Meditation, das geistige Aktivität gründlich reinigt
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Das Rad der Analyse und Meditation, das geistige Aktivität gründlich reinigt
Namo Mañjushriye!
Alles Fehlerhafte in dieser samsarischen Existenz
kommt zustande durch die zerstörerischen Emotionen in unserem eigenen Geist.
Falsche Auffassungen sind die Ursache für diese Emotionen.
Indem wir sie meiden, können wir unser Denken bereinigen.
Diesbezüglich gibt es drei Abschnitte: 1) wie man meditiert, 2) das Ausmaß des Fortschritts und 3) die Bedeutung der Praxis.
1. Wie man meditiert
Stelle dir jemanden, von dem du dich besonders angezogen fühlst,
lebhaft im Geiste vor.
Teile ihn in seine psycho-physischen Bestandteile, die fünf Skandhas[1], auf.
Beginne deine Analyse mit dem Körper:
Fleisch, Blut, Knochen, Knochenmark, Fett,
innere Organe, Gliedmaßen und Sinnesorgane,
Exkremente, Urin, Bakterien, Haare, Nägel und des Weiteren.
All diese unreinen Substanzen,
sowie die Komponenten von Erde und anderen Elementen –
zerlege im Geist ihre verschiedenen Aspekte,
die noch weiter aufgegliedert werden können,
schrittweise, bis zum letztlich kleinsten Teilchen,
und prüfe, ob sich dabei jeweils Begierde erhebt oder nicht.
Abgesehen von diesen verschmutzten Fragmenten
gibt es nichts anderes, was wir als „Körper“ bezeichnen könnten.
Der Körper kommt einem unreinen Apparat gleich,
er ist ein Bündel von Venen und Muskeln, ein Haufen Dreck,
ein Gemisch von brodelnden Körperflüssigkeiten.
Wirst du dir dieser Tatsache bewusst, sitze damit
und richte deine Achtsamkeit darauf.
Wenn die Schwungkraft dieser Einsicht abnimmt,
wende dich der Natur der Empfindungen, Wahrnehmungen,
Gestaltungskraft und des Bewusstseins zu,
indem du sie in ihre zahlreichen Aspekte aufgliederst und diese untersuchst.
Wenn du erkennst, dass sie alle Luftblasen, einer Luftspiegelung,
einer Bananenstaude oder einer magischen Täuschung gleichen,
wirst du feststellen, dass es auch in ihnen absolut nichts gibt,
an das man anhaften könnte.
Fahre mit dieser Überlegung fort, bis sie nachlässt.
Sobald sie verklungen ist, versuche nicht, sie aufrechtzuerhalten,
sondern wende dich stattdessen einer anderen Untersuchung zu.
Kontempliere ausgiebig darüber, dass diese Aggregate,
die unrein und ohne jeglichen Wesenskern sind,
nachdem sie sich gebildet haben, nicht verharren,
sondern augenblicklich vergehen.
Alle Zivilisationen und Gesellschaften der Vergangenheit
sind einmal der Zerstörung anheim gefallen,
und genauso wird es denen der Gegenwart und der Zukunft ergehen.
Es liegt in der Beschaffenheit von allem Zusammengesetzten,
dass es in uns Ernüchterung hervorrufen kann.
Es ist bekannt, dass alle Lebewesen einmal sterben werden,
doch der Tod kommt plötzlich und ist unvorhersehbar.
Denke darüber nach, wie sich alle Erfahrungen im Leben
von einem Moment zum nächsten verändern.
Kurz gesagt, reflektiere deutlich und Schritt für Schritt,
so gut es dir gelingt,
über alle Aspekte von Vergänglichkeit,
die das Bedingte ausmachen.
Werde dir dessen bewusst, dass die Skandhas derer, die wir begehren,
flüchtig sind wie ein Blitz, dahinschwindend wie Blasen und
vorüber eilend wie Wolken am Himmel.
Beschäftige dich mit nichts anderem,
bis diese Vorstellung ihre Schwungkraft verloren hat.
Reflektiere anschließend darüber, dass es innerhalb der Aggregate,
die vergänglich sind und aus vielen Teilen bestehen,
Erfahrungen gibt, die ihrer Natur nach leidvoll sind,
und solche, die angenehm erscheinen, bis sie sich verändern.
Nichtsdestotrotz fungieren sie alle als Ursache für zukünftiges Leiden
und stellen somit die Grundlage für Elend dar.
Denke auch, so intensiv du kannst,
über all die Not in der Welt nach.
Für all dies sind die Skandhas verantwortlich.
Es ist kein Körnchen, kein Fünkchenin den Aggegraten zu finden, das nicht befleckt wäre,
und ihnen allen haftet der Makel des Leidens an.
Weil die Skandhas die Quelle von Schmerz sind,
werden sie mit einem verschmutzten Morast,
einer Feuergrube und einer Dämoneninsel verglichen.
Verweile in dieser Einsicht, so lange es geht.
Analysiere zum Schluss diese Aggregate, die vielfältig und unbeständig sind,
und deren leidvolle Natur nun verdeutlicht wurde.
Suche nach dem, was wir das „Selbst“ nennen.
Erkennst du, dass die Skandhas, gleich einem Wasserfall,
einem Regenschauer oder einem leeren Haus,
leer von einem innewohnenden Selbst sind,
bleibe bei dieser Überzeugung, bis sie verblasst.
Sobald sie verschwunden ist, wende die Untersuchung erneut schrittweise an,
wie zuvor beschrieben.
Reflektiere gelegentlich darüber, ohne einer bestimmten Sequenz zu folgen,
oder untersuche, was gerade in Betracht kommt.
Übe dich immer wieder aufs Neue darin, diese Punkte zu analysieren,
indem du manchmal die Skandhas von anderen
umanchmal die eigenen anschaust
und gelegentlich auch alle bedingten Phänomene untersuchst.
Untergrabe auf diese Weise alles Anhaften.
Kurzum, verwerfe jegliches Denken,
das nicht eine Untersuchung dieser vier Punkte[2] beinhaltet,
und drehe das Rad der Analyse wieder und wieder.
Je häufiger du diese Untersuchungen ausführst,
umso mehr wird deine Gewissheit zunehmen.
Lasse daher geistige Klarheit und Intelligenz
mit all solchen Beobachtungen einhergehen,
und, gleich einem Lauffeuer, das sich über eine Graslandschaft ausbreitet,
praktiziere stetig und ohne Unterbrechung.
Sage dir: „In der Vergangenheit habe ich mich ständig
durch irrige Auffassungen in allen möglichen Vermutungen verfangen.
Von nun an werde ich mich stattdessen hiermit auseinandersetzen.“
Falls du dessen überdrüssig wirst, jedoch merkst,
dass sich keine leidverursachenden Emotionen mehr erheben,
selbst wenn du das Gegenmittel des Analysierens nicht anwendest,
verweile in diesem Zustand von Gleichmut,
um deinen Geist zu erfrischen.
Nach einer Weile, wenn sich deine Müdigkeit gelegt hat,
beginne erneut mit der Untersuchung, genau wie zuvor,
und sei dabei stets achtsam und gewahr
der Einsicht gegenüber, zu der dich diese Analyse führt.
Sollte dich hin und wieder Achtlosigkeit überkommen,
und sollten die Emotionen wieder die Gelegenheit haben, sich zu erheben,
mache erneut Gebrauch von dieser Untersuchung,
als würdest du im Angesicht von Feinden zu einer Waffe greifen.
So wie Licht die Dunkelheit vertreibt,
steht es außer Frage, dass eine präzise Analyse wie diese,
selbst wenn man sich nur in ein klein wenig in ihr übt,
den destruktiven Emotionen großen Schaden zufügt.
In gleichem Maße, wie man sich der Defizite der bedingten samsarischen Welt bewusst ist,
wird man auch das Nichtbedingte,
den erhabenen und beruhigenden Frieden von Nirvana, verstehen.
2. Das Ausmaß des Fortschritts
Der Zeitpunkt wird kommen, wo da du, durch Vertrautheit mit dieser Praxis,
enatürliches Verständnis davon erlangen wirst,
dass sowohl die eigenen fünf Skandhas als auch die der anderen
und ebenso alles Bedingte von Natur aus vielfach,
vergänglich, leidvoll und frei von einem inhärenten Selbst sind.
Auch ohne bewussten Aufwand werden all deine Erfahrungen
magisch und substanzlos erscheinen,
und du wirst somit deine Emotionen bändigen.
Ohne die Wogen der destruktiven Emotionen
wird der Ozean deines Geistes still und klar.
Dies dient dem Erlangen von geistiger Selbstkontrolle,
durch die man den Samadhi des Ruhigen Verweilens von Shamatha erreicht.
Gelingt es dir dann, in einsgerichteter Konzentration das anzuschauen,
was den Geist wirklich ausmacht,
entspricht das der außergewöhnlichen Einsicht
des Klaren Sehens von Vipashyana.
Dies bildet den Pfad, den man zu Beginn der drei allgemeinen Fahrzeuge betritt.
3. Die Bedeutung der Praxis
Alle Erscheinungen, die illusionsgleich in Abhängigkeit
voneinander entstehen, sind von jeher ungeboren.
In der Leerheit, der Abwesenheit eines Selbst der Phänomene,
befinden sie sich somit jenseits von Extremen
wie Einssein oder Unterschiedlichkeit.
Dieser grundlegende Raum der großen(, untrennbaren Gleichheit
ist das, was es auf dem Pfad des Mahayana zu verwirklichen gilt.
Dieser Raum, der Dharmadhatu, das höchste Klare Licht,[3]
ist auch bekannt als die Essenz der Sugatas.
Indem man ihn verwirklicht, erreicht man das große Nirvana,
das jenseits der Extreme von Existenz und Frieden verweilt.
Überragende Reinheit und Glückseligkeit,
große Nichtbedingtheit und absolute Dauerhaftigkeit,
das große Selbst – dies sind seine transzedenten und
unübertroffenen Qualitäten.
Es ist der Gegenstand der Tantras der höchsten geheimen Essenz,
der alles durchdringende, grundlegende Raum absoluter, spontaner Glückseligkeit.
Er wird auch als „selbst-entstehende Weisheit“ bezeichnet,
ein Zustand, in dem alle Phänomene vollkommen sind.
Eine direkte Einführung darin durch die Kernanweisungen des Lamas
entspricht dem Ansatz des Dzogchen, der Großen Vollkommenheit.
Aus diesem Grund ist als vorbereitendes Training für den
Pfad des Großen Fahrzeugs von Sutra und Tantra,
um die Hülle der Verblendung zu durchstoßen,
die das Zusammengesetzte umgibt,
dieser Pfad von präziser Analyse in der Tat ausgezeichnet.
Anfänglich werden, durch die Kraft dieser genauen Untersuchungen,
die Anzeichen von aufkommenden destruktiven Emotionen ausgemerzt.
Indem man dann Gewissheit darüber erlangt, dass die Skandhas leer sind,
befreit man sich von Begierde und Erwartungen bezüglich der drei Daseinsbereiche.
Schließlich kommen nach und nach alle Konzepte
vollständig im Zustand der Leerheit zur Ruhe.
Frei von dem Verlangen etwas aufzugeben oder Gegenmittel anzuwenden,
entledigt man sich jeglicher Anhaftung an extreme Überzeugungen.
Mit reinstem Mitgefühl und frei von Begierde
bewegt man sich in samsarischer Existenz ohne die geringste Angst,
wie ein Vogel, der durch den uneingeschränkten Raum des Himmels gleitet,
und erlangt den Rang eines höchsten Bodhisattvas.
Entsprechend der Schriften der edlen Meister
habe ich hier die entscheidenden Punkte der Pfade der drei Fahrzeuge dargelegt,
die, als Vorbereitung für den Pfad von Shamatha und Vipashyana,
eine gründliche Schulung in geistiger Analyse bieten.
Je vertrauter man mit dem ausführlichen Training in präziser analytischer Meditation wird,
umso mehr werden sich die leidverursachenden Emotionen verringern,
und je schwächer sie werden, umso leichter wird einem die Praxis von Shamatha gelingen.
Gold, wenn es durch Feuer gereinigt wird, kann ausgiebig geschmiedet werden.
Mit dem von Anhaftung befreiten Geist verhält es sich ebenso.
In den Sutren wird gesagt, dass das Verdienst, das sich daraus ergibt,
gründlich darüber nachzudenken, dass alles Zusammengesetzte
leidvoll, unbeständig, leer und ohne eine Selbst ist,[4]
selbst wenn es nur den Zeitraum umfasst, den es braucht, um mit den Fingern zu schnippen,
unermesslich größer ist als jenes, das daraus resultiert,
wenn jemand den Drei Juwelen tausend Götterjahre lang Geschenke in Hülle und Fülle darbringt.
als Grund dafür wird in den Lehren angegeben, dass das Rezitieren der vier Siegel
der Lehren des Großen Fahrzeugs
dem Verständnis der vierundachtzigtausend Abteilungen des Dharma entspricht.
Wenn du gründlich über die hier beschriebenen Punkte meditierst,
wirst du, da sie die wesentlichen Aspekte von vielen tausend Sutren vereinen,
ohne Schwierigkeiten den Schatz des vollkommenen Wissens
um das Tiefgründige und Umfassende erlangen,
und infolgedessen auch rasch Befreiung.
Mögen durch das Verdienst dieser Darlegungen
alle Wesen, gequält durch die Leiden dieses Zeitalters des Verfalls,
durch die Kraft der nektargleichen Lehren über Nichtanhaftung
den Zustand des Friedens von Nirvana erlangen!
Dies wurde von Mipham Nampar Gyalwa am 18. Tag
des zehnten Monats im Eisen-Hasen-Jahr [1891] verfasst.
Mangalam!
| Übersetzt von Jurek Schreiner, 2012. Danke an Erika Bachhuber für Korrekturen.
-
Die Aggregate, aus denen sich unsere gesamte körperliche und geistige Existenz zusammensetzt. (Sogyal Rinpoche, „Das tibetische Buch vom Leben und vom Sterben“, Kapitel 15, 2010, Droemer Knaur) ↩
-
Vielfältigkeit, Unbeständigkeit, Leiden und das Fehlen eines Selbst. ↩
-
Diese beiden letzten Zeilen finden sich in TBRC W23468. ↩
-
Die Zeile འདུ་བྱེད་ཐམས་ཅད་སྡུག་བསྔལ་དང། findet sich in TBRC W23468. ↩