Ratschlag eines degenerierten Dharma-Heuchlers
Ratschlag eines degenerierten Dharma-Heuchlers
von Khenchen Ngawang Palzang
E ho ho! Ich, ein degenerierter Dharma-Heuchler,
irregeführt von den acht Verblendungen,[1]
stehe verwirrt auf dem Pfad der Erleuchtung
verloren ist jegliches Interesse, die sechs Vollkommenheiten zu praktizieren.
Kostbarer Vater, bitte schau auf mich voller Mitgefühl.
Wie so oft ist dein Kind der Verwirrung anheimgefallen.
Noch immer spekuliere ich bloß über die Lehren der Großen Vollkommenheit;
weit bin ich von den tiefgründigen Praktiken dieses Pfades abgekommen;
zu sehr bin ich in die Erscheinungen dieses Lebens vernarrt.
Bitte denke voller Liebe an mich, an einen, der den Pfad verpfuscht hat.[2]
Obwohl ich unter den Anhängern des Allwissenden geboren wurde,[3]
ist mein Geistesstrom nur wenig im Einklang mit dem Dharma.
Je mehr ich darüber nachdenke, desto größer wird meine Trauer.
Der Kummer meines traurigen Herzens steigt auf aus tiefstem Inneren.[4]
Ach, wie sehr ich mich doch danach sehne, die Erfahrungen dieses Lebens hinter mir zu lassen.
Ach, wie sehr ich mich doch danach sehne, den heimtückischen Dämon der Erwartung, dass alles gelingt, zu vertreiben.[5]
Vorzutäuschen, gut zu sein, um Ruhm zu erlangen – wem ist damit geholfen?
Bitte segne mich, damit mein Geist in Einklang mit dem Dharma ist.
Vater, bitte halte mich in deinem weisen und mitfühlenden Herzen,[6]
denn dein Kind ist in einem solch erbärmlichen Zustand.[7]
Ich frage mich, ob ich wohl jemals einen Ort der Einsamkeit erreichen werde?
Ach, wie sehr ich mich doch danach sehne, die Kette der Belagerung durch Schüler zu durchbrechen.
Meine oberflächliche Auffassung vom Dharma ist ein riesiges Missverständnis.
Ich weiß, dieses muffige Kloster ist eine dämonische Falle,[8]
und alles, was ich getan habe, hat nur weiter zu Saṃsāra beigetragen.
Guru, bitte denke an mich, lass die Wünsche deines Kindes wahr werden.
Ich verlasse mich auf dich, mögest du meine Hindernisse auflösen.
Ich bitte dich um alles, was nötig ist, um ungehindert Errungenschaft zu erlangen.
Möge sich das Gute rasch verbreiten, wie ein leichtfüßiges Reh.[9]
| Englische Übersetzung: Joseph McClellan mit Unterstützung im Lektorat von Ninjyed N.T. und mit Erläuterungen von Dubseng Rinpoche, 2024. Deutsche Übersetzung von Daniel Dastagir, 2024. Lektoriert von Erika Bachhuber.
Bibliographie
Tibetische Ausgabe
mkhan po ngag dgaʼ. „rdo rjeʼi mched dam la gdams pa“. In gsung 'bum ngag dbang dpal bzang, Band 2:149-50. Khreng tuʼu, o.J. BDRC MW22946_BB0792.
mkhan po ngag dgaʼ. gsung 'bum kun mkhyen ngag gi dbang po, Band 1, S. 149-150. snga ʼgyur kaḥ thog bcu phrag rig mdzod chen moʼi dpe tshogs. Khreng tuʼu: Si khron mi rigs dpe skrun khang, 2017. BDRC W4CZ364088.
Version: 1.0-20240924
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Hier steht „acht Verblendungen“ für die „acht weltlichen Sorgen“, die Irrwege, das eigene Glück auf Gewinn und Verlust, Wohlbefinden und Unwohlsein, Lob und Tadel, Anerkennung und Bedeutungslosigkeit auszurichten. Als Verse haben die „acht weltlichen Sorgen“ zu viele Silben, um in eine wohlklingende Zeile zu passen. Wir verwenden daher „acht Verblendungen“ in dem Sinne, dass wir verblendet sind, wenn wir glauben, diese acht Belange würden irgendetwas anderes als nur noch mehr Leiden hervorbringen. (Hinweis: Im Tibetischen haben wir den Genitiv kyi durch den Instrumental kyis ersetzt). ↩
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„Mich, einen der den Weg verpfuscht hat" ist die Übersetzung von lam log pa nga – wörtlich: „falscher Weg ich". ↩
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„Allwissender" (kun mkhyen) bezieht sich in Nyingma-Kontexten gewöhnlich auf Longchen Rabjam, kann aber auch für Buddha Śākyamuni oder andere erleuchtete Wesen bezeichnen. ↩
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Diese sehr gefühlsbetonte Zeile enthält die Elemente „Geist+traurig+Herz Wind+Tiefe+von+aufsteigen“. Hier kann „Geist" (sems) als „Herz" übersetzt werden, da der tibetische Begriff diese sich überschneidenden Konnotationen enthält. „Trauer" ist die Übersetzung von snying rlung („Herzwind"), was Niedergeschlagenheit oder Depression bedeutet. In der Ausgabe von 2017 ist das Verb langs (Vergangenheitsform), in der älteren, undatierten Ausgabe ist es lang (Gegenwarts-/Zukunftsform). ↩
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„Zu erwarten, dass alles gelingt", ist die Übersetzung von bzang 'dod (wörtlich: „Gutes wollen"). „Heimtückischer Dämon" ist die Übersetzung von 'gong po (wörtlich: „Gongpo-Geist – eine Klasse negativer Geister, die mit der eigenen innewohnenden Aggression verbunden sind). ↩
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„Halte mich in deinem weisen und mitfühlenden Herzen“ gibt die Elemente „mitfühlend+Weisheit-Geist+tun“ wieder. Wortwörtlich könnte man sagen: „Richte deinen mitfühlenden erleuchteten Geist (dgongs pa) [auf mich]." ↩
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In der älteren, undatierten Ausgabe steht tul ba'i snang tshul, was „lächerlicher Zustand“ bedeuten könnte. In der Ausgabe von 2017 heißt es jedoch rtul ba'i, was schwach oder kraftlos bedeutet und was wir mit „erbärmlich" übersetzt haben. ↩
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„Muffig" ist hier die freie Übersetzung von gog po („baufällig"). Khenpo Ngawang Palzang war von 1909 bis 1922 der oberste Khenpo des Klosters Katok. In seiner Autobiographie sagt er offen, dass er nur auf Anordnung seines Lehrers und im Dienst der Überlieferungslinie dort blieb, dass er aber lieber in Abgeschiedenheit praktiziert hätte. ( Man beachte, dass in den verfügbaren Ausgaben zhags pa shes steht; wir glauben jedoch, dass zhags par shes grammatikalisch korrekter ist, da es die Absicht des Verbs mit einem Akkusativpartikel verdeutlicht). ↩
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„Wie ein leichtfüßiges Reh“ ist die Übersetzung für die Metapher ri shwa rlung khyer bzhin du -wörtlich: „Wie ein vom Wind getragenes Reh." ↩