2. Zufluchtnahme
Zufluchtnahme
von Yukhok Chatralwa Chöying Rangdrol
Diese [Erklärung] hat zwei Abschnitte: 1) ursächliche und resultierende Zufluchtnahme und 2) wie man Zuflucht nimmt.
1. Ursächliche und resultierende Zufluchtnahme
Im Kommentar zu Gelöstheit und Gelassenheit in der Natur des Geistes finden heißt es:
Was dies betrifft: Gemäß dem Fahrzeug der Merkmale entspricht der Wunsch, den höchsten Dharmakāya zu erlangen und ihn im eigenen Geist zu verwirklichen, der resultierenden Zuflucht und die Zufluchtnahme zu den drei Juwelen als die, die uns leiten, bis dies erreicht ist – wodurch wir die Ursache für dieses Erlangen schaffen – entspricht der ursächlichen Zuflucht.
Und:
Die Anhänger der Tradition des geheimen Mantra streben danach, die Natur ihres Geistes, die innewohnende Buddhaschaft und als solche bereits hier und jetzt vorhanden ist, direkt zu verwirklichen. Daher nehmen sie sowohl Zuflucht zu den gewöhnlichen Quellen der Zuflucht, den drei Juwelen, als auch zur außergewöhnlichen Zuflucht, indem sie in der Natur des Geistes ruhen, die seit jeher ungeboren ist. Somit stellen die drei Juwelen der verschiedenen Maṇḍalas wie auch die allgemeinen drei Juwelen der Lehren die ursächlichen Quellen der Zuflucht dar und zu ihnen Zuflucht zu nehmen entspricht der ursächlichen Zufluchtnahme. Die resultierende Quelle der Zuflucht ist die Natur des eigenen Geistes, selbst-entstehende Weisheit, in der die drei Juwelen schon immer gegenwärtig waren, und in dieser Natur einsgerichtet zu verweilen, ohne etwas anzunehmen oder abzulehnen oder etwas künstlich zu erzeugen oder sich auszudenken, entspricht der resultierenden Zufluchtnahme.
Die grundlegende, ursprüngliche Natur des Geistes ist und war schon immer, seit undenklichen Zeiten, die Natur der resultierenden drei Juwelen. Wenn wir durch die Güte der ursächlichen drei Juwelen dieses Potential in uns erwecken und verwirklichen können, wird unserer Geist rasch und mit Leichtigkeit Schutz finden, und all unsere konzeptuellen Gedanken werden sich von selbst in der ursprünglichen Weite des klaren Lichts befreien und keine gewohnheitsbedingten Tendenzen können mehr entstehen.
2. Wie man Zuflucht nimmt
Die Wesensmerkmale der Objekte der Zuflucht
In die drei Juwelen und ihre Essenz, die Sugatas,
in die drei Wurzeln, Lama, Yidam und Khandro,
in die Kanäle, innere Luft und Tikles sowie ihre Natur, das Bodhicitta,
in das Maṇḍala von Essenz, Natur und Mitgefühl
nehme ich Zuflucht, bis Erleuchtung vollständig verwirklicht ist.
In der Tradition der gewöhnlichen Fahrzeuge verstehen wir die Buddhas, die über die vier Kāyas und fünf Arten von Weisheit verfügen, als jene, die uns leiten; das Dharma mit seinen beiden Aspekten der Übertragung und Verwirklichung betrachten wir als unseren Pfad, und die unumkehrbare Saṅgha mit ihren Qualitäten von Wissen und Befreiung als unsere Gefährten auf dem Pfad. Wir nehmen Zuflucht zu ihnen mit dem Wunsch, dass wir diese drei in Zukunft tatsächlich selbst vollenden mögen.
Gemäß der allgemeinen Methode des außergewöhnlichen geheimen Mantra nehmen wir zusätzlich zu den Buddhas, die Aufgeben und Verwirklichung vervollkommnet haben, auch noch Zuflucht zu den „drei Wurzeln“. Wir bringen unseren Körper, unsere Sprache und unseren Geist dem Lama dar, der die Quelle bzw. die „Wurzel“ allen Segens ist. Wir verlassen uns auf die Yidam-Gottheiten, die sich in zahllosen fried- und zornvollen Erscheinungen aus dem friedvollen Zustand des Dharmakāya erheben und die die Quelle aller Errungenschaften bzw. Siddhis sind. Wir nehmen die Weisheits-Ḍākinīs, die sich kraft ihres unaufhörlichen Mitgefühls durch den ungeborenen Raum der Wirklichkeit bewegen, als unsere Gefährtinnen; sie sind die Quelle, durch die Hindernisse beseitigt werden.
Gemäß der besonderen, erhabenen Methode der Vajra-Essenz nehmen wir Zuflucht zum raschen Pfad, auf dem wir die große, grundlegende Essenz der Kanäle als den Nirmāṇakāya benutzen, als Basis für das Erlangen des erleuchteten Körpers; wir trainieren die fünf unzerstörbaren Windenergien als den Sambhogakāya, als Basis für das Erlangen der erleuchteten Sprache, und wir reinigen die Natur der feinstofflichen Essenzen als den Dharmakāya, als Basis für das Erlangen des erleuchteten Geistes. In diesem außergewöhnlichen Ansatz der Kanäle, Energien und Essenzen des Vajra-Körpers entstehen die grob- und feinstofflichen Kanäle, Energien und Essenzen sowie jegliche Unreinheiten aufgrund der dynamischen Energie des großen Tikle des klaren Lichts, innerhalb dessen die „unterstützte“ Erfahrung von unveränderlicher, großer Glückseligkeit und großer Leerheit, die mit dem höchsten aller Attribute versehen ist, untrennbar vereint sind. Wenden wir diese Methode an, wird sich die reine Erfahrung der ursprünglichen Weisheit einstellen, doch wenn wir sie nicht praktizieren, werden sich die unreinen Erfahrungen der Verblendung erheben. Damit diese Praxis Wirkung zeigen kann, ist es entscheidend, dass du dir Wissen über die Natur des Vajra-Körpers aneignest, so wie sie in den Tantras, Kommentaren und Kernanweisungen beschrieben wird.
Die letztendliche und unfehlbare Zufluchtnahme zum natürlichen Zustand beinhaltet das Entwickeln des großen, absoluten Maṇḍala der selbst-entstehenden, nicht-dualen Weisheit, die im Geist der Quellen der Zuflucht gegenwärtig ist, das Bodhicitta, das sich zusammensetzt aus der leeren Essenz, die dem Dharmadhātu bzw. der Leerheit entspricht, die mit dem höchsten aller Attribute – der spontan vollkommenen Weisheit der erkenntnisfähigen Natur – versehen ist, sowie der Weisheit des alles durchdringenden Mitgefühls. Darüber hinaus ist die leere Essenz der Dharmakāya, der Guru und der Buddha; die erkenntnisfähige Natur ist der Sambhogakāya, die Yidam-Gottheit und das Dharma; und das alles durchdringende Mitgefühl ist der Nirmāṇakāya, die Ḍākinī und die Saṅgha.
Manche Menschen fragen sich vielleicht, ob Buddha, Dharma und Saṅgha auch die außergewöhnlichen Quellen der Zuflucht, wie sie im geheimen Mantra zu finden sind, mit einschließen oder nicht. In der Tat sind sie auf folgende Weise in ihnen enthalten:
Der Guru kann entweder ein gewöhnliches Wesen oder ein Ārya, ein Heiliger, sein. Er oder sie ist also entweder ein Mitglied der Saṅgha oder zählt zu den Buddhas. Generell gesagt, sind sich die Yidam-Gottheiten darin gleich, dass sie Verkörperungen ursprünglicher Weisheit sind, auch wenn sie der Natur ihrer Manifestation entsprechend in fried- oder zornvoller Gestalt erscheinen; somit zählen sie zum Juwel des Buddha. Die Ḍākas und Ḍākinīs gehören zur inneren Saṅgha der Vidyādharas, wie es deutlich im Yamāntaka-Tantra und anderen Texten dargelegt wird.
Der Grund, weswegen diese drei separat als „drei Wurzeln“ bezeichnet werden, ist wie folgt. Obwohl im Allgemeinen die Gurus zu den Buddhas oder der Saṅgha gezählt werden können, ist der jeweilige Guru, der uns die zur Reife und Befreiung führenden Anweisungen gewährt, außerordentlich gütig, und daher nehmen wir Zuflucht in dem Wissen, dass er oder sie die „Wurzel“ bzw. Quelle allen Segens ist. Obwohl alle fried- und zornvollen Yidam-Gottheiten zu den Buddhas gehören, betrachten wir die Gottheit, auf deren Symbol unsere Blume während einer Ermächtigung fällt und mit der wir aus früheren Leben eine karmische Verbindung haben, als etwas Besonderes und verstehen ihn oder sie als die Wurzel aller Errungenschaften. Obwohl wir zu den Ḍākas und Ḍākinīs in dem Wissen Zuflucht nehmen, dass sie zur inneren Saṅgha der Vidyādharas gehören, praktizieren wir speziell jene, die uns besonders nahe sind, bringen ihnen Opfergaben dar und erkennen sie als die Quelle für die Beseitigung von Hindernissen an.
Stelle dir vor, dass du Zuflucht mit der geistigen Haltung eines großen Wesen nimmst, von jetzt an, bis du höchste Erleuchtung erlangt hast.
Das Visualisieren des Feld des Verdienstes für die Zufluchtnahme
Stelle dir vor, dass der Ort, an dem du dich befindest, sowie die gesamte Gegend um dich herum ein wunderschöner und himmlischer Bereich sind, geschaffen aus verschiedensten kostbaren Juwelen. Aus dem Erdboden wächst ein Wunsch erfüllender Baum mit fünf Hauptästen. Er ist in Hülle und Fülle mit Blättern, Blumen und Früchten bedeckt und geschmückt mit Ornamenten, winzigen Glocken und dergleichen. Er erfüllt den gesamten Raum. In seiner Mitte, auf einem von Löwen getragenen Juwelenthron und einem vielfarbigen Lotus-, Sonnen- und Mondsitz, befindet sich die Verkörperung aller Buddhas – dein eigener Wurzelmeister – in der Gestalt von Orgyen Dorje Chang („der Vajradhara von Oḍḍiyāna“), von blauer Farbe und Vajra und Glocke haltend.
(Anmerkung: Shabdrung Rinpoche[1] pflegte zu sagen, dass [dieser Aspekt], sich Guru Rinpoche während der Zufluchtspraxis als blau vorzustellen, mit der mündlichen Tradition des Allwissenden (d.h. Jikme Lingpa) selbst übereinstimmt. Wie es in der Geheimen Verkörperung des Guru, Lama Sangdü heißt:
„Dunkelblau, mit einem Gesicht und zwei Händen, nackt, mit drei Augen und Knochenschmuck, seine rechte Hand hält einen Vajra am Herzen; seine linke Hand hält eine Glocke und umarmt die Gefährtin. Er sitzt mit beiden Füßen in der Vajra-Haltung. Die Gefährtin umschlingt ihn von links und sitzt in seinem Schoß. Sie ist die Weisheits-Ḍākinī Yeshe Tsogyal, in der vollen Schönheit einer jugendlichen Sechzehnjährigen.“)
Er befindet sich in Vereinigung mit seiner Gefährtin, Yeshe Tsogyal, die weiß ist und Krummesser und Schädelschale hält. Sie sind mit Seide und Knochenornamenten geschmückt.
Der Guru sitzt in der Vajra-Haltung. Über seinem Kopf befinden sich die Meister der Dzogchen-Linie, einer über dem anderen sitzend. Sie sind von den edlen Wurzel- und Linien-Lamas, den Yidam-Gottheiten der verschiedenen Maṇḍalas der sechs großen Tantra-Klassen sowie einer unvorstellbaren Anzahl von Ḍākas und Ḍākinīs der drei Sphären umgeben.
Auf dem vorderen Ast befinden sich Buddha Śākyamuni und all die anderen Buddhas der drei Zeiten in Nirmāṇakāya-Form. Auf dem Ast [zu Guru Rinpoches] Rechten befindet sich die Mahāyāna-Saṅgha, einschließlich der acht nahen Söhne. Auf dem Ast zur Linken befinden sich Śāriputra und Maudgalyāyana und die Versammlung der edlen Śrāvaka-Saṅgha. Auf dem hinteren Ast befindet sich das Juwel des Dharma in Form von aufgestapelten Texten, von roter Farbe, aus denen die Vokale und Konsonanten von selbst ertönen.
In den Zwischenräumen befindet sich eine große, ozeangleiche Versammlung von Samaya-gebundenen Schützern, sowohl Weisheitsschützern als auch jene in der jeweiligen Gestalt, die durch ihre eigenen vergangenen Taten geschaffen wurde. Sie füllen den gesamten Raum aus, völlig lückenlos.
„Jene in der Gestalt, die von ihren eigenen vergangenen Taten geschaffen wurde,“ bezieht sich auf Schützer wie die achtundzwanzig Īśvaris, die überweltlich sind und doch aufgrund ihres vergangenenen Karma und ihrer leidverursachenden Emotionen noch in Form von gewöhnlichen Wesen erscheinen. Als Vajra Manuṣya Rakṣasi zum Beispiel die Frau von Ravana, dem König der Rakṣasas, war, hatte sie das Gesicht einer Rakṣasi, als sie jedoch von Rudra entführt wurde, verwandelte sie ihr Rakṣasi-Gesicht in das eines Yaks.
Stell dir vor, dass all diese Gottheiten über unermessliche Qualitäten von Weisheit, Liebe und Kraft verfügen, und dass sie tatsächlich gegenwärtig sind und uns leiten, sich unserer annehmen und uns auf dem Pfad zur Erleuchtung voranbringen.
Du sitzt vor ihnen, mit deinem Vater zu deiner Rechten und deiner Mutter zu deiner Linken. Vor dir befinden sich all jene, die dir jemals Leid zugefügt haben, und um dich herum befinden sich alle Wesen der sechs Bereiche. Ihr alle bekundet euren Respekt mit eurem Körper, indem ihr die Hände faltet; mit eurer Sprache chantet ihr schallend die Verse der Zufluchtnahme, und in eurem Geist denkt ihr folgendes:
„Von jetzt an bis wir die Essenz der Erleuchtung erlangen, betrachten wir den Meister als den, der uns leitet, die Yidam-Gottheiten und Buddhas als unsere Lehrer, das Dharma als unseren Pfad, und die Ḍākinīs, Dharma-Beschützer und Mitglieder der Saṅgha als Gefährten auf dem Weg. Wir verlassen uns auf euch. Wir bringen euch alles dar. Wir haben keine andere Zuflucht oder Hoffung außer euch. Was wir auch tun, nehmt euch unserer an.“
Praktiziere die Zufluchtnahme auf diese Weise mit glühender Hingabe und so häufig wie möglich.
Am Ende strömen Lichtstrahlen aus dem Herz der Zufluchtsgottheiten. Sie erfüllen deinen Körper und deinen Geist sowie Körper und Geist aller anderen Wesen und reinigen eure emotionalen und kognitiven Verdunkelungen und gewohnheitsbedingten Muster. Stell dir vor, dass sich eure Lebensspanne verlängert, euer Verdienst anwächst und dass eure Qualitäten von Gelehrsamkeit und Verwirklichung immer mehr zunehmen. Ruhe für einige Zeit in einem Zustand von Meditation, frei von jeglichem geistigen Greifen.
In einer anderen Version heißt es in Patrul Rinpoches Kurzem Handbuch für die Stufen des Visualisierens:
Am Ende der Sitzung stell dir vor, dass du und alle Wesen mit einem schwirrenden Geräusch, wie ein Vogelschwarm, der von einem geschleuderten Stein aufgescheucht wird, empor fliegt und ihr euch in die Versammlung der Zufluchtsgottheiten hinein auflöst.
Dann löst sich die Zuflucht nach und nach in Licht auf. Vorne lösen sich alle Buddhas in Śākyamuni auf. Zur Rechten lösen sich die Bodhisattvas in Avalokiteśvara auf. Zur Linken löst sich die edle Saṅgha der Śrāvakas und Pratyekabuddhas in Śāriputra auf. Sie alle lösen sich dann in das sich hinten befindende Dharma auf, und dann löst sich dieses gesamte Juwel des Dharma in Guru Rinpoche auf. All die ihn umgebenden Meister, Yidams, Dharma-Beschützer und Wächter lösen sich ebenfalls in Guru Rinpoche auf, der sich dann wiederum langsam in Licht auflöst und verschwindet. Verweile für kurze Zeit in diesem Zustand der Meditation, frei von konzeptuellen Bezugspunkten.
Dieses wird als die absolute Zuflucht bzw. die letztendliche, resultierende Zuflucht des Mantrayāna bezeichnet. Mipham Rinpoche hat gesagt:
Am Ende der Sitzung stell dir vor, dass die Quellen der Zuflucht zu Licht verschmelzen und sich dann in dich und alle anderen Wesen auflösen, wodurch ihr alle zu Buddhas werdet. Anschließend widme das Verdienst.
Die Gelübde und der Nutzen können anderen Quellen entnommen werden.
| Übersetzt von Jurek Schreiner, Rigpa-Übersetzungen, 2012, unter Mitarbeit von Karin Behrendt.
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Das bezieht sich auf Jamyang Khyentse Wangpo. ↩