Eine kurze Einführung in die Bardos
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Eine kurze Einführung in die Bardos
von Patrul Rinpoche
Wenn Wesen mit einem physischen Körper sterben, erleben sie im Allgemeinen als erstes die folgenden zwanzig Stufen der groben Auflösung:
Wenn sich das Aggregat der Form auflöst, zucken die Gliedmaßen, und der Körper verliert seine Stärke und Kraft.
Wenn sich die spiegelgleiche Weisheit auflöst, wird der Geist unklar und diffus.
Wenn sich das Erdelement auflöst, wird der Körper trocken.
Wenn sich das Sehvermögen auflöst, wird die Sicht verschwommen und das Auge nimmt eine rundere Form an.
Wenn sich die Form des Objektes auflöst, verliert der Körper seine Vitalität und wird schwächer.
Wenn sich das Aggregat der Empfindungen auflöst, kann der Sterbende keine Gefühle mehr wahrnehmen.
Wenn sich die Weisheit der Gleichheit auflöst, gibt es kein Gewahrsein für die drei Arten von Empfindungen mehr (d.h. angenehm, schmerzhaft oder neutral).
Wenn sich das Wasserelement auflöst, trocknen Lippen, Schweiß, Urin, Sperma und Eizellen aus.
Wenn sich das Hörvermögen auflöst, kann man keine äußeren und inneren Geräusche mehr hören.
Wenn sich der Klang des Objektes auflöst, kann man die Geräusche des Körpers selbst nicht mehr hören.
Wenn sich das Aggregat der Wahrnehmung auflöst, ist es nicht mehr möglich, zwischen verschiedenen Lebewesen zu unterscheiden.[1]
Wenn sich die Weisheit der Unterscheidungsfähigkeit auflöst, vergisst der Sterbende die Namen seiner eigenen Eltern, Geschwister oder Kinder.
Wenn sich das Feuerelement auflöst, kann Nahrung nicht mehr richtig verdaut werden.
Wenn sich die Nasenfunktion auflöst, verlangsamt sich die obere Atmung.[2]
Wenn sich der Geruch des Objekts auflöst, kann die Person die Gerüche ihres eigenen Körpers nicht mehr wahrnehmen.
Wenn sich das Aggregat der Bildekräfte auflöst, ist die Person nicht mehr in der Lage, körperliche Aktivitäten auszuführen.
Wenn sich die alles vollendende Weisheit auflöst, kann sich die Person nicht mehr an gewöhnliche, alltägliche Aufgaben oder deren Zweck erinnern.
Wenn sich das Windelement auflöst, verlassen die zehn inneren Winde ihren üblichen Ort.
Wenn sich die Fähigkeit der Zunge auflöst, fühlt sich die Zunge dicker und kürzer als gewöhnlich an und die Zungenwurzel färbt sich blau.
Wenn sich der Geschmack des Objektes auflöst, kann die Person die sechs Geschmacksrichtungen nicht mehr erkennen.
Nachdem sich die zwanzig groben Formen der Auflösung auf diese Weise entfaltet haben, folgt der Prozess der subtilen inneren Auflösung:
Wenn sich Erde in Wasser auflöst, kann der Mensch sich nicht mehr bewegen und hat keine Kraft mehr.[3] Es fühlt sich an, als ob der Körper im Boden versinkt. Als inneres Zeichen gibt es eine schimmernde Weite von Blau und den Eindruck von leise träufelndem Regen und fließendem Wasser.
Wenn sich Wasser in Feuer auflöst, trocknen Mund und Nase aus, und die Zunge klebt am Gaumen. Als inneres Zeichen erscheinen rauchfarbene Wirbel von Dunstschwaden über einer Ebene.
Wenn sich Feuer in Wind auflöst, verlieren die Extremitäten an Wärme und die Verdauungsenergie des Magens wird schwächer. Als inneres Zeichen knistern und flackern rot schimmernde Funken wie Glühwürmchen auf.
Wenn sich Wind in Bewusstsein auflöst, wird der Ausatem länger, und wenn die grobe äußere Atmung aufhört, kann die Person nicht mehr einatmen. Als inneres Zeichen erscheint die Vision einer brennenden Lampe und vieler in einer Reihe angeordneter Fackeln.
Wenn sich Bewusstsein in Raum auflöst, ist ein inneres Zeichen, dass das Gewahrsein sehr klar ist, und als ein äußeres Zeichen gibt es eine Erfahrung wie der Himmel ohne Wolken.[4]
Wenn sich Raum dann in Lichtheit auflöst, entfalten sich schrittweise vier Visionen:
Die weiße Essenz, die wir vom Vater erhalten haben, sinkt vom Scheitel herab, und wenn sie das Herz erreicht, erhebt sich das, was man „Erscheinung“ nennt. Als äußeres Zeichen wird dies von einer Erfahrung von Weißheit begleitet, wie ein von Mondlicht durchfluteter, völlig klarer und wolkenloser Himmel. Als ein inneres Zeichen gibt es eine klare Erfahrung der Selbst-Klarheit des Bewusstseins, frei von groben Gedankenzuständen, die auf wahrgenommene Objekte ausgerichtet sind.
Während das subtile rote Element der Mutter von der Basis des Zentralkanals aufsteigt, verblasst die Weisheit der Erscheinung und geht in „Zunahme“ über. Als äußeres Zeichen entfaltet sich eine rote Vision wie ein wolkenloser, vom Sonnenlicht durchfluteter Himmel. Als inneres Zeichen gibt es einen extrem klaren Geisteszustand ohne grobe Gedankenzustände, die auf das wahrnehmende Subjekt ausgerichtet sind.
Wenn sich die subtile weiße und rote Essenz im Herzen treffen, löst sich die Weisheit der Zunahme in „Errungenschaft“ auf. Dadurch entsteht als äußeres Zeichen eine Erfahrung von Schwärze, wie die tiefe Dunkelheit, die eintritt, wenn der Himmel schwarz wie die Nacht wird. Als ein inneres Zeichen hören extrem subtile Gedanken, die mit wahrgenommenen Objekten und wahrnehmendem Subjekt verbunden sind, völlig auf, und die gesamt Vielfalt von Konzepten, die auf dem Erscheinungsaspekt des Geistes beruht, verblasst, so dass – während der gewöhnliche dualistische Geist aufhört – die Weisheit der Errungenschaft aufdämmert.
Wenn sich die subtilen Essenzen von Blut und Atem, die Bindus A und HAṂ[5] und so fort, die sich innerhalb des weißen Kanals im Herzen befinden, der einem Seidenfaden gleicht, alle vollständig auflösen, erhebt sich die Grundlichtheit des Todesmoments. Als äußeres Zeichen gibt es eine Erfahrung von Leerheit und Klarheit ohne Mittelpunkt oder Peripherie, wie ein völlig klarer, wolkenloser Himmel. Als inneres Zeichen verweilt man in gleichzeitig entstehender, nicht-konzeptueller Weisheit, die völlig ohne Ausführlichkeit ist. Wenn du dies erkennst und es dir gelingt, in einer kontinuierlichen Erfahrung des gegenwärtigen Augenblicks zur Ruhe zu kommen, werden sich Mutter- und Kind-Lichtheit vereinen, und du wirst im ersten Bardo befreit sein.
In diesem Zusammenhang wird leere Lichtheit entsprechend der allgemeinen Herangehensweise der Tantras erklärt, während die Weise, wie die Formen der Gottheiten sich aus klarem Licht erheben, wie die Licht-Tikles erscheinen und so weiter in den Dzogchen-Tantras erklärt wird. Dennoch scheint sich dies nur selten in einer Weise zu entfalten, die einem Gelegenheit zur Befreiung bieten würde.[6]
Aus der Lichtheit heraus, in die sich die drei Visionen aufgelöst haben, entfalten sich dann nach und nach wieder Erscheinungen, und der Körper des Bardo des Werdens formt sich. Für die erste Hälfte dieses Bardos, wie lang dieser auch andauern mag, hast du die Form deines vorangegangenen Lebens, und für die zweite Hälfte nimmst du die Gestalt deiner baldigen Wiedergeburt an. Alle Sinnesfähigkeiten sind intakt, und du kannst auf wundersame Weise und ungehindert überall hin reisen, nur nicht in den Mutterschoß. Du bist für alle unsichtbar, außer für jene in derselben Kategorie (d.h. für andere Bardo-Wesen) und für jene, die göttliches Sehvermögen erlangt haben. Da du einen Körper wie in einem Traum angenommen hast, der in einem Augenblick erzeugt wird und weder Licht noch völlige Dunkelheit kennt, nennt man dies den „Bardo des Halbdunkels“.
Es ist zu diesem Zeitpunkt schwierig zu erkennen, dass du gestorben bist, daher werden gewisse Hinweise darauf gelehrt, dass du dich im Bardo befindest. So sieht man zum Beispiel weder Sonne noch Mond, wenn man in den Himmel schaut, und hinterlässt keine Fußspuren und wirft keinen Schatten.
In dieser Phase erheben sich alle möglichen Arten von Erfahrungen, sowohl positive als auch negative, als Ergebnis von gutem und schlechtem Karma. Insbesondere gibt es die vier so genannten „Furcht einflößenden Klänge“, nämlich:
- das Geräusch eines Bergrutsches, das dem Erd-Prāṇa entspringt,
- das Geräusch tosender Wellen im Meer, das dem Wasser-Prāṇa entspringt,
- das Geräusch von verheerenden Waldbränden, das vom Feuer-Prāṇa herrührt, und
- der Klang von tausend gleichzeitigen Donnerschlägen, der dem Wind -Prāṇa entspringt.[7]
- Die so genannten „drei grauenerregenden Abgründe“ sind die drei weißen, roten und schwarzen Abgründe, die die spontanen Formen der drei Geistesgifte sind. Wenn man sie sieht und in sie hineinfällt, tritt man in den Mutterleib ein.
Dies ist auch die Phase, in der man sich auf die Suche nach einem Geburtsort macht, Sehnsucht nach einem Zuhause und einem Körper verspürt und so weiter. Es können verschiedene Visionen auftreten, die Anzeichen für den Eintritt in einen Geburtsort sind, mit Erscheinungen wie Rädern aus Licht, Höhlen, leeren Hohlräumen, männlichen und weiblichen Tieren, männlichen und weiblichen Menschen und so weiter.
An diesem Zeitpunkt sind dies die entscheidenden Punkte der Praxis:
Als erstes musst du dich, wenn du sicher bist, dass du sterben wirst, von aller Bindung und Anhaftung an dieses Leben trennen. Bekenne aus der Tiefe deines Herzens alle Übertretungen und Brüche des Samaya, alle schädlichen Handlungen und so weiter. Verbringe keinen einzigen Augenblick mit Schuldgefühlen über deine eigenen negativen Handlungen, mit Furcht vor dem Tod oder Anhaftung an dieses Leben. Empfinde stattdessen Glück und Freude, und sage dir selbst: „Jetzt werde ich das klare Licht im Moment des Todes erkennen. Und sollte mir das nicht gelingen, werde ich mich freuen, weil ich den Bardo sicherlich als Gelegenheit nutzen werde, in einen reinen Bereich wie Akaniṣṭha, Zangdokpalri oder Sukhāvatī zu reisen“. Halte ohne Unterlass die starke Absicht und den Gedanken aufrecht: „Ich werde in die reinen Bereiche gelangen!“
Lasse, während du in einer Erfahrung der Praxis zur Ruhe kommst, die für dich am klarsten und lebendigsten ist, sanft und auf entspannte Weise die Komponenten dieses Lebens los. Da du nicht in der Lage sein wirst, Kernanweisungen zu praktizieren, mit denen du nicht vertraut bist, stütze dich nur auf die Praktiken, die für dich im Moment am klarsten sind. Diese beiden Punkte - auf diese Weise in einer Praxis zur Ruhe zu kommen und danach zu streben, in ein reines Land wie Zangdokpalri zu reisen - sind unübertrefflich. Insbesondere ist es absolut entscheidend, dass du immer wieder die Absicht erweckst, in das reine Land deiner Wahl zu reisen. Es ist außerordentlich wichtig zu verstehen, dass du selbst jetzt, Tag und Nacht, nie von diesem Gedanken ablassen darfst.
| Englische Übersetzung Adam Pearcey, 2010. Mit Dank an Alak Zenkar Rinpoche, der freundlicherweise viele Punkte dieses Textes geklärt hat. Deutsche Übersetzung Karin Behrendt, November 2020.
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Wörtlich: „gibt es kein Bewusstsein für Zweibeiner und andere Lebewesen“. ↩
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Dies ist dasselbe wie der „unterstützende Wind“ (‘degs byed kyi rlung). Alak Zenkar Rinpoche ↩
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zungs mi thub. zungs bezeichnet etwas wie die lebenswichtigen Bestandteile des Körpers. Als Anzeichen ihres Verfalls kann die Person sich nicht mehr selbst aufrecht halten. Alak Zenkar Rinpoche ↩
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Es ist möglich, dass der Text hier fehlerhaft ist und die äußeren und inneren Zeichen vertauscht sind. ↩
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A (ཨ) und HAṂ (ཧཾ) symbolisieren an dieser Stelle die weiße Essenz, die man vom Vater erhalten hat (ein auf dem Kopf stehendes HAṂ), sowie die rote Essenz, die man von der Mutter erhalten hat. Beide treffen im Herzen aufeinander. ↩
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Mit anderen Worten, für die meisten Menschen entfaltet sich dieser Prozess der subtilen Auflösung so schnell, dass es fast unmöglich ist, ihn zu erkennen. ↩
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In Tsele Natsok Rangdrol’s Mirror of Mindfulness (dran pa'i me long) werden diese als die „vier Feinde“ (dgra bzhi) bezeichnet, was darauf hindeutet, dass es irgendwann eine Verwechslung der gleichklingenden Silben sgra und dgra gegeben hat. ↩