Ein Lied zur Einführung der Sicht
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Ein Lied zur Einführung der unverfälschten Sicht der Großen Vollkommenheit[1]
von Khenpo Gangshar
In Ehrerbietung verneige ich mein Haupt zu Füßen des Dharma-Königs:[2]
Segne mich, so dass ich die natürliche Lichtheit sehen möge.
Ema, Kind von großem Glück!
Sitze, ohne deinen Körper zu bewegen,
wie ein Pflock,[3] in fester Erde verankert!
Sitze mit deinen Augen weder geschlossen noch zu weit offen,
mit dem offenen Blick einer Gottheit auf einem Wandgemälde!
Und lasse deinen Geist zur Ruhe kommen, locker und entspannt,
wie auf dem Boden ausgebreitete Wolle.[4]
Während du ruhst, wird der Geist, sobald die Gedanken zum Stillstand gekommen sind,
wie ein klarer wolkenloser Himmel,
so transparent wie ein makelloser Kristall.
Genau das ist die Sicht des Letztendlichen,
der lichtvollen Großen Vollkommenheit.
Ruhe also in Ausgewogenheit in diesem Zustand.
Diese Lichtheit, die so klar ist wie der Himmel
kann nicht mit Dumpfheit oder Aufgewühltheit verwechselt werden.
Dochdie Gefahr ist groß, sie mit
klarer, gedankenfreier Konzentration zu verwechseln;[5]
lasse also nicht zu, dass du auf Abwege gerätst.
Wenn sich Gedanken erheben, egal ob gute oder schlechte,
jage ihnen nicht nach, sondern wende dich nach innen
und blicke sie direkt an.
Gestatte deinem Geist, sich sanft zu entspannen.
Gedanken werden dann und dort befriedet sein.
Wenn du für geraume Zeit in Meditation zur Ruhe kommst,
dann, geradeso wie trübes Wasser, das sich klärt,
so dass sich Vieles darin spiegeln kann,
genauso wird der Geist klarer und strahlender werden,
und viele Qualitäten werden sich mühelos manifestieren,
wie zum Beispiel erhöhte Sicht und Wahrnehmung.[6]
Selbst wenn der Meister von Oḍḍiyāna[7] vor dir erscheinen würde,
hätte er nichts zur Sicht der Großen Vollkommenheit hinzuzufügen.
Selbst wenn Longchen Rabjam vor dir erscheinen würde,
hätte er nichts hinzuzufügen, wie man Gedanken auf den Pfad bringt.
Selbst wenn die fünfundzwanzig erhabenen Schüler vor dir erscheinen würden,
hätten sie betreffs dieser Erfahrung nichts anderes hinzuzufügen.
Was mich betrifft, ein Yogi, egal ob im Schlaf oder wenn ich umhergehe,
habe ich nichts anderes als dies, um darüber zu meditieren.
Du analysierst vielleicht akribisch und siehst dann
diese klare und leere Natur des Geistes,
als würdest du den Himmel sehen, wenn der Wind die Wolken vertrieben hat;
es gibt jedoch nichts Größeres, als dies zu sehen.
Oder du kommst natürlich zur Ruhe, ohne Analyse,
und siehst diese klare und leere Natur des Geistes,
so wie Wasser klar wird, wenn du es nicht aufrührst.
Es gibt jedoch nichts Größeres, als dies zu sehen.
Obwohl es viele Kategorien von Sicht gibt –
dieser klare, leere Geist-so-wie-er-ist, frei von Greifen,
ist die unverfälschte Sicht der Großen Vollkommenheit.
Geschrieben von dem alten Unwissenden Gangshar Wangpo. Möge es sich als sinnvoll erweisen!
| Englische Übersetzung Sean Price, 2015. Überarbeitet mit Unterstützung von Yeshi Chötso und Adam Pearcey und mit großem Dank an Tulku Yeshi Rinpoche, 2023. Deutsche Übersetzung Sushma Baumgartner, Lektorat Karin Behrendt.
Bibliographie
Tibetische Ausgaben
gang shar dbang po. „rdzogs chen lta ba 'khrul med du ngo sprod pa'i mgur ma“ in gsung 'bum/_gang shar dbang po. 1 Band, Kathmandu: Thrangu Tashi Choling, 2008 (BDRC W2CZ6597). Band 1: 99–101
zhabs dkar ba tshogs drug rang grol. „sa bcu'i dbang phyug rma chen spom ra'i gangs ri'i mgul nas bzhengs pa'i sko“ in gsung 'bum tshogs drug rang grol. 15 Bände. New Delhi: Shechen Publications, 2003. Band. 4: 463–465
Sekundärquellen
Khenchen Thrangu, Vivid Awareness: The Mind Instructions of Khenpo Gangshar, with commentary by Khenchen Thrangu Rinpoche. Boston, MA: Shambhala Publications, 2011.
Khenpo Gangshar Wangpo. Songs of Realization and Pith Instructions. Halifax: Nalanda Translation Committee, 2022.
Tulku Yeshi Rinpoche, Concise Great Perfection Instructions of the Dzogchen Yogi Shbakar Tshokdruk Rangdrol (with Commentary by Tulku Yeshi Rinpoche). Heruka Institute, 2023.
Version: 1.0-20250404
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Obwohl dieser Text in Khenpo Gangshars gesammelten Schriften erscheint, entstammt er klar einem Lied ohne Titel, verfasst von dem Dzogchen-Yogi Shabkar Tsokdruk Rangdrol (1781–1851). ↩
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Da dieser Text ursprünglich von Shabkar Tsokdruk Rangdrol verfasst wurde, ist hiermit eindeutig sein Wurzellehrer Chögyal Ngakgi Wangpo (chos rgyal ngag gi dbang po, 1736–1807) gemeint. Chögyal bedeutet „Dharma König“. ↩
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Der tibetische Begriff bezeichnet einen Pflock, an dem man ein Yak-Kalb anbindet, um es davon abzuhalten, bei seiner Mutter zu trinken, so dass die Mutter gemolken werden kann. ↩
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Tibetische Nomaden breiten nach der Schafschur die Wolle auf dem Boden aus, damit der Geruch und die Feuchtigkeit verfliegen können. ↩
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Der Text warnt vor der Gefahr der Verwechslung von gedankenfreier Konzentration (tib. dhyāna) mit Befreiung und Lichtheit. ↩
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Damit sind die fünf Arten der Hellsichtigkeit oder übernatürlichen Wahrnehmung (Skt. pañcābhijñā, tib. mgnon shes lnga) und die sogenannten „fünf Augen“ (Skt. pañcacakṣu, tib. spyan lnga) oder fünf Arten des Sehvermögens gemeint. ↩
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D.h. Guru Padmasambhava ↩