Kummervoller Gesang über Andere
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Kummervoller Gesang über Andere[1]
von Khenchen Ngawang Palzang
Eh ma eh ma! In diesen Zeiten des Verfalls
verdrehen einige, obgleich du die Wahrheit sprichst, deine Worte.
Diese Menschen, die den rechten Pfad als Täuschung betrachten,
brechen mir das Herz, wenn ich an sie denke!
Denke ich an all die mannigfaltigen Leiden, drückt es mich nieder!
Das Mahlen der Zahnräder der Heuchelei bekümmert mich!
Jedoch bin ich von Ehrfurcht erfüllt, Freunde, wenn ich an die Methoden der raschen Befreiung denke!
Lass dich nicht täuschen von den Fiktionen der Orakel[2].
Die Dinge sind nicht, wie sie scheinen; sieh sie als den Tanz von Trugbildern.
Strebe eifrig voran auf dem Pfad zur Freiheit und bemühe dich nach Kräften darum.
Wie du es auch betrachten magst, Saṃsāra ist sinnlos.
Wie viel du auch erreicht haben magst, wirst du je zu einem Ende kommen?
Stelle dir vor, in deine vergangenen Leben zu reisen[3]
und prüfe: All das, was du in früheren Existenzen angehäuft hast – was ist noch davon übrig?
Es ist an der Zeit, ehrlich zu sich selbst zu sein.
Es ist sogar überfällig.
Ha ha! Inmitten des trügerischen Zaubers dieser unwirklichen und illusionsgleichen Stadt
birst dieses Lied über das Erkennen aller Yogas als Illusionen
aus diesem alten Meister der Täuschungen[4], der die trügerische Natur erkennt, hervor.[5]
Ganz gleich, wie viele fiktive Worte ich schreiben mag, sie sind endlos.
Doch verblüfft von diesem Anblick unwirklicher Konstrukte, die im grundlegenden Raum zusammenbrechen,
kam ich nicht umhin, einige kleine Samen fiktiver Worte einzuwerfen.
Ich werde nicht länger verweilen; auf zur Insel der Freiheit!
Wenn es irgendwelche Freunde gibt, die mein Ziel teilen, so kommt mit mir und eilt euch!
An Bord des sicheren Schiffes der Großen Geheimen Essenz[6]
habe ich die Segel der Leidenschaft für die innigen Worte meines Gurus gehisst;
der Pfad der Fülle hat mir alles gegeben, wonach es mich dürstet;
so segele ich dem geheimen Königreich der Natur des spontan präsenten Gewahrseins entgegen!
Sadhu! Sadhu! Sadhu!
| Englische Übersetzung Joseph McClellan, 2024. Deutsche Übersetzung Lobsang Dargye, 2024. Lektoriert von Karin Behrendt.
Bibliografie
Tibetisch
mKhan po ngag dga'. gSung 'bum ngag dbang dpal bzang vol. 2, pp. 41–42. Khreng tuʼu, n.d. BDRC W22946.
mKhan po ngag dgaʼ. gSung ʼbum kun mkhyen ngag gi dbang po, vol. 1, pp. 183–184. sNga ʼgyur kaḥ thog bcu phrag rig mdzod chen moʼi dpe tshogs. Khreng tuʼu: Si khron mi rigs dpe skrun khang, 2017. BDRC W4CZ364088.
Version: 2.0-20240501
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Dieser Titel basiert auf dem Katalogtitel der Ausgabe von 2017. In der (undatierten) älteren Ausgabe wird dieses Werk als gdams pa deng song snyigs ma („Rat für diese Zeiten des Niedergangs“) gelistet, eine Ableitung aus den ersten vier Silben des Textes. Es ist vermutlich passender, es als „Lied“ (glu) einzustufen, da der Autor in einer späteren Passage davon spricht, wie es ihm im Augenblick einer meditativen Inspiration erschien. ↩
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„Wahrsager“ oder „Orakel“ steht hier für mo pra, eine Variante von mo phywa: „Wahrsagerei“ oder „Weissagen“. Khenpo Ngaga weist darauf hin, dass Wahrsagen keine Möglichkeit bietet, zur endgültigen Wahrheit zu gelangen. ↩
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Diese Zeile gibt das eher figurative sngar song shi ba’i mgron po’i ngang tshul can wieder, das wörtlich eher „in der Art eines Reisenden durch vergangene Tode“ bedeutet. ↩
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„Alter Meister der Täuschungen“ steht hier für rdzun rgan – wörtlich eher „alter Schwindler“ oder „alter Lügner“. ↩
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In dieser Passage gibt es einige grammatikalische Unklarheit über den Hilfspartikel gyis in der zweiten Zeile, der in beiden Textausgaben zu finden ist. Er wird häufig mit dem gleichlautenden Genitiv gyi verwechselt. Verwendet man den Hilfspartikel, wandelt sich „alter Meister der Täuschungen“ in das Subjekt des nächsten transitiven Verbs, was bris („schreiben“) wäre. In diesem Fall ist die Teilung der Passage in kürzere Sätze klarer als ein umständlich langer Satz. Bei dieser Art des Satzbaus ist in der nächsten Zeile außerdem die Verknüpfung des Begriffes rnal byor (Yoga) mit thams cad (alle) nötig, woraus sich „alle Yogas“ ergibt. Wenn man es alternativ als orthografischen Fehler betrachten und dem Genitiv Vorrang geben würde, ergäbe sich daraus eine leicht vereinfachtere Strophe, in der es hieße: „Dieses Lied über die Erkenntnis, dass alles falsch ist/bricht aus diesem Yogi hervor, einem alten Meister der Täuschungen, der die trügerische Natur erkennt.“ ↩
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Ein Synonym für das Vajrayāna. ↩