Eine Sonne, um die Dunkelheit zu vertreiben
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Eine Sonne, um die Dunkelheit der falschen Ansichten zu vertreiben
von Jamyang Khyentse Chökyi Lodrö
Du zerschneidest das Netz bedingter Existenz
und verbrennst das Dickicht der unzähligen Mängel:
Schatz der Weisheit, diamantener Scharfsinn,[1]
zu deinen Füßen verbeuge ich mich und verkünde diese Botschaft.
Wie bedauerlich ist es, dass das feindselige Geschrei
gegenüber dem Dharma von jemandem mit falschen Sichtweisen,
der von der Dunkelheit bedingter Existenz verhüllt ist,
sich jetzt überall auszubreiten [droht].
Sich an der eigenen Sichtweise als überragend festzuklammern
ist ein Makel, der durch Meditation abgelegt werden sollte;
wohingegen der Besitz der authentischen Sichtweise
von selbst die Knoten der Anhaftung und Ablehnung löst
und vom einzwängenden Käfig konzeptueller Ausarbeitung befreit.
Der Beschützer Nāgārjuna und seine Erben erklärten,
dass alle Argumente von Leerheit und Nicht-Leerheit
und dergleichen Formen von konzeptionellen Konstrukten sind.
Alte und neue Schulen und ihre Anhängerschaft
als gut oder schlecht zu verurteilen und die eigene [Tradition] zu loben,
während man die der anderen herabsetzt,
ist die Praxis unehrenhafter Menschen.
Der sanfte Regent und zweite Buddha,
Lobzang Drakpa in glühender Pracht,
bewahrte die Tradition der Überlieferung
des unvergleichlichen Jowo [Atiśa] und seiner Erben.
Er führte ein reines Leben im Sinne der Befreiung;
die Worte des Buddhas erhoben sich für ihn als persönliche Anleitung,
und er verstand, wie alle Lehren miteinander im Einklang stehen.
Universelle Unvoreingenommenheit und Wohlwollen
sind somit die Tradition dieser Übertragungslinie.
Folgt man dieser Tradition
und handelt dann auf eine Weise, die ihr widerspricht,
bedeutet, den Lehren zu schaden.
Die Tatsache, dass Padmākara von Oḍḍiyāna
und der begnadete, hervorragende Dīpaṃkara
zu ein und demselben Weisheitsstrom gehörten,
wird im Buch von Kadam eindeutig dargelegt.
Zudem stimmt der Guru des großen Herrn Tsongkhapa, Lekyi Dorje,[2]
in seinen [Werken] Große mündliche Vajrapāṇi-Überlieferung
sowie den Überragenden heilenden Nektar-Antworten[3]
den Absichten von Mahāmudrā und Dzogchen zu.
Paṇchen Lobzang Chökyi Gyaltsen,
Ngawang Lobzang Gyatso und andere
haben tiefgründige Nyingma-Lehren praktiziert.
Auch andere wohlgelehrte und verwirklichte Meister studierten
den Dharmaschatz des Kama und Terma der alten Übersetzungsschule
und brachten den Wesen Nutzen.
Die Gendenpas machten Schatzbelehrungen
wie etwa den Geheimsten zornvollen Hayagrīva[4]
und den Kyergang-Hayagrīva der reinen Vision,[5]
zum Kern ihrer Tradition der geheimen Praxis.
Aus diesen Gründen und aufgrund verlässlicher Überlieferungen,
authentischer Textquellen und vielfältiger logischer Argumente
sollte man weder den tiefgründigen Lehren
der überragenden alten Übersetzungsschule noch ihren Anhängern
jemals feindlich gegenüberstehen.
Niemand sollte Einwände gegen eine Aussage erheben,
die die Großartigkeit des eigenen Systems preist.
Aber tiefe Feindseligkeit in sich selbst zu hegen
oder sie in anderen zu wecken,
bedeutet, einen falschen Pfad einzuschlagen, der [uns und andere] vom Glauben abbringt;
so nimmt man eine schwere Last des Unrechts auf sich
und schafft eine Ursache für unheilvolles Schicksal und die Höllen.
Deshalb wäre es weise, vorsichtig zu sein.
Für viele edelgesinnte Menschen[6]
ist es angebracht, dem Verhalten der Edlen zu folgen
und durch das Wundermittel altruistischer Absicht
den Lehren und Wesen Nutzen und Glück zu bringen.
Heilige Worte, in Stein gemeißelt,[7]
Tsa-tsas, Gebetsfahnen und vom Wind gedrehte [Gebets-]Mühlen:
von derselben Brise, die an ihnen vorbeiweht, berührt zu werden,
wird den Samen der Befreiung säen.
Solch tugendhafte Praktiken sollten niemals verhindert werden.
Die Zeremonien, die sieben Tage andauern und auf der Periode von
neunundvierzig Tagen gründen,
die klar im Medizin-Sūtra, Reinigungs-Tantra und so weiter erklärt werden,[8]
sowie die Lebensgeschichte des Gurus von Oḍḍiyāna,
die Chroniken von Padma,
das geheime Siddhi-Mantra des Gurus,
die friedlichen und zornigen Gottheiten und so weiter –
solche Praktiken und Belehrungen zu unterdrücken
würde sicherlich schädliche Auswirkungen nach sich ziehen.
Dieselbe Logik würde es verbieten,
das Namensmantra, das den Weisheitsgeist
des eigenen Wurzelgurus anruft, zu rezitieren
oder die Visualisationen und Rezitationen
jeglicher Gottheiten auszuführen, die dem Guhyasamāja-Maṇḍalaentspringen.
Gebt also auf Körper, Sprache und Geist acht.
Dass jedes Dorf, jedes Kloster und jeder Wohltäter
Rezitation, Opfergaben und Lobpreisung ausführt,
nach seinem jeweils eigenen System,
in so vielen alten Traditionen, wie es gibt,
ist überaus tugendhaft und glücksverheißend.
Dem Unsinn von Phabongkha zu folgen,[9]
und die [eigene] Tradition abzulegen, nur um
alle möglichen neumodischen Praktiken aufzunehmen,
wird der Welt nur Unglück bringen.
In diesen Tagen nehmen die Lehren ab.
Dies ist ein Zeitalter der Konflikte, das auf Zerfall beruht.
Welcher Nutzen sollte ein Streit haben,
der aus sektiererischer Anhaftung und Abneigung entsteht? Es ist sinnlos!
Verweile darum in der offenen Weite des mittleren Wegs.
Mögen durch diese Tugend alle fühlenden Wesen
in ihrem Geist Entsagung und Bodhicitta entwickeln.
Möge der Reichtum ihrer authentischen Sicht zunehmen.
Mögen sie die zwei Ansammlungen vollenden, Verdunkelungen reinigen
und rasch die Stufe der zwei Kāyas erreichen.
Dies wurde von einem unverbesserlichen, faulen, dharmalosen Wanderer, der Vertrauen in alle Lehren des siegreichen Buddha entwickelt hat, verkündet. Möge es eine Quelle von unermesslichem Nutzen für die Welt sein. Sarva maṅgalaṃ.
| Englische Übersetzung: Adam Pearcey, mit freundlicher Hilfe von Alak Zenkar Rinpoche und großzügiger Unterstützung der Khyentse-Stiftung und des Tertön Sogyal Trust, 2019. Deutsche Übersetzung Daniel Dastagir, Frühling 2024. Herzlichen Dank an Karin Behrendt für die Mitarbeit und das Lektorat.
Bibliographie
Tibetische Ausgabe
'Jam dbyangs chos kyi blo gros. „Log lta'i smag 'byin mun sel nyi ma“ in 'Jam dbyangs chos kyi blo gros kyi gsung 'bum. 12 Bände. Bir: Khyentse Labrang, 2012. W1KG12986 Band 8: 389-393
Version: 1.0-20240410
-
rdo rje rnon po (Skt. Vajratīkṣṇa) ist ein Beiname von Mañjuśrī. ↩
-
d.h. Lhodrak Namkha Gyaltsen 1326-1401. ↩
-
d.h. Zhu lan sman mchog bdud rtsi'i phreng ba, das in den Schriften von Tsongkhapa enthalten ist. ↩
-
rta mgrin that gsang khros pa. ↩
-
skyer sgang dag snang rta mgrin. ↩
-
Wenn man dam par als dam pa liest (AZR). ↩
-
Wenn man bskor als brko liest (AZR). ↩
-
Wenn man es sbyang als sbyong liest (AZR). Das Medizin-Sūtra scheint ein anderer Name für das Saptatathāgatapūrvapraṇidhānaviśeṣavistara zu sein. Das Reinigungs-Tantra ist das Sarvadurgatipariśodhana. ↩
-
Wenn man mkhas als kha'i liest (AZR). Hier handelt es sich um Pha-bong-kha[-pa] bDe-chen snying-po (1878-1941), der berühmt-berüchtigt für seine Anti-Nyingma-Einstellung und seinen Widerstand gegen das Nichtsektierertum im Allgemeinen war. An ihn und seine Anhänger ist dieser Text gerichtet. ↩