Herzensrat in aller Kürze
Herzensrat in aller Kürze
von Jamyang Khyentse Chökyi Lodrö
Verehrung der unvergleichlichen Quelle der Zuflucht, dem kostbaren Gebieter aus Oḍḍiyāna!
Diese hervorragende Unterstützung, eine menschliche Form mit ihren Freiheiten und Vorteilen,
ist so schwer zu erlangen; doch nun, da wir sie tatsächlich erlangt haben,
sollten wir danach streben, sie sinnvoll zu nutzen und ihr volles Potential zu verwirklichen,
ohne die Gelegenheit zu vergeuden und sie ungenützt vergehen zu lassen.
Die Wurzel aller Dharmas ist der eigene Geist:
überzeugend, wenn ungeprüft, genial im Spiel der Täuschung;
doch untersucht man ihn, ist er ohne Grundlage oder Ursprung;
in seiner Essenz frei von Kommen, Bleiben oder Gehen.
Alle Phänomene von Saṃsāra und Nirvāṇa
sind nichts als reine oder unreine Projektionen des eigenen Geistes.
In Wirklichkeit existieren weder Saṃsāra noch Nirvāṇa.
Von Anbeginn leer, von Anfang an rein –
dennoch ist diese Leerheit kein nihilistisches Nichts,
denn in der Natur klaren Lichts ist spontane Präsenz.
Reines Gewahrsein, bereit zu reagieren, ist die Grundlage für alles, was sich entfaltet.
Rigpa ist jenseits von Bezeichnung und Worten.
Aus seinem Potential entstehen Saṃsāra und Nirvāṇa in all ihrer Vielfalt.
Die Manifestation und wer sie hervorbringt, sind nicht zwei:
In der Erfahrung dieser Nicht-Dualität verweile – unverändert.
Lass deinen Körper zur Ruhe kommen, ohne dich zu bewegen oder rastlos zu sein.
Lass deine Sprache zur Ruhe kommen, indem du dem Fluss des Atems folgst.
Lass deinen Geist zur Ruhe kommen, ohne Gedanken oder Ideen nachzuhängen.
Weit offen, tief aus dem Inneren, komm zur Ruhe und entspanne dich in natürlicher Gelassenheit.
Das reine Gewahrsein des ungeborenen Dharmakāya
ist nicht durch Ursache oder Bedingung geschaffen, sondern tritt von selbst in Erscheinung.
Lebendig und wach, frisch, unverhüllt und klar,
unberührt von Gedanken wie „Wahrnehmender“ oder „Wahrgenommenes“,
unbefleckt von vermeintlichem Verstehen:
In dieser natürlichen Erfahrung der Konzentration verweile.
„Verweilen“ ist jedoch nur ein Ausdruck –
in Wirklichkeit gibt es weder jemanden, der verweilt, noch ein Verweilen als solches.
In dieser Rigpa-Leerheit – dem Antlitz des Dharmakāya selbst -
verweile zu jeder Zeit, in unabgelenktem Erkennen.
Saṃsāras Aktivitäten und Verblendungen sind endlos:
Je mehr man tut, desto mehr nehmen sie zu,
Feindseligkeit und Anhaftung werden dabei immer stärker
und schaffen die Ursachen für den eigenen Untergang.
Wende deinen Geist daher dem Dharma zu.
Wenn du das Dharma körperlich, verbal und geistig verinnerlichst,
hast du den Weg zu Befreiung und Erleuchtung eingeschlagen,
und im Moment des Todes wirst du nichts zu bereuen haben.
In diesem und all deinen zukünftigen Leben
wirst du von einer Freude zur nächsten gehen.
Visualisiere den, der äußerst freundlich und gütig ist,
deinen eigenen Guru, untrennbar eins mit dem Großen Orgyen,
auf dem Scheitel deines Kopfes oder in deinem Herzen,
und erwecke inbrünstige, sehnsüchtige Hingabe.
Was auch immer dir widerfährt, Gutes wie Schlechtes, Glück oder Leid,
bete zu deinem Vater, dem kostbaren Guru.
Lass deinen Geist untrennbar mit seinem verschmelzen und ruhe.
Gib im Moment des Todes Anhaftung und Abneigung auf;
visualisiere den kostbaren Guru aus Orgyen auf deinem Scheitel,
und löse dein Bewusstsein, eine Kugel aus Licht, symbolisiert durch HRīḤ (ཧྲཱིཿ),
in das Herzzentrum des großen, glorreichen Orgyen auf.
Wenn du dies von nun an regelmäßig praktizierst,
wirst du dich zum Zeitpunkt deines Todes leicht daran erinnern.
Rezitiere auch das Wunschgebet des Glorreichen Kupferfarbenen Berges.
Zusammenfassend kann man sagen, dass Dharma-Praxis bedeutet:
Die Anhaftung an Saṃsāra zu durchschneiden,
Liebe und Mitgefühl für die Wesen der sechs Klassen zu erwecken
und diesen unseren Geist vollständig zu zähmen.
Ich bitte dich inständig, praktiziere dies jederzeit, ohne Ablenkung!
Auch wenn es mir selbst an jeglicher Praxis fehlt,
wurde dieser kurze Rat,
der den Worten der großen Heiligen der Vergangenheit entspricht,
von dem sturen Dharma-losen Parasiten geschrieben,
der Chökyi Lodrö genannt wird,
für die edle Bhikṣunī Pelu,
nur um ihre Bitte nicht abzuschlagen.
Sarva maṅgalam.
| Englische Übersetzung Adam Pearcey, 2017, mit vielen Entlehnungen - einschließlich des Titels - aus der 1981 erschienenen Fassung von Rigpa Translations. Deutsche Übersetzung Karin Behrendt 2022. Lektoriert von Erika Bachhuber.